Das Wummern der Welt aushalten

Birke Opitz-Kittel erfuhr erst mit 37 Jahren, dass sie Asperger-Autistin ist. Bis dahin hatte sie sich immer gefragt, warum sie irgendwie schief in der Welt steht.

Sobald sie das Haus verlässt, wird sie ein anderer Mensch. Elegantes Kleid, perfektes Make-up, Haare glatt gekämmt und streng aus dem Gesicht gebunden. Normal sein eben, nicht auffallen. Alles andere gibt nur Ärger. Die Gesellschaft erwartet Anpassung. Wenn sie zum Arzt muss, das ist das Schlimmste. Sie verliert dann manchmal ihre Stimme, weiß nicht, was sie antworten soll auf die vielen Fragen. Es gab Ärzte, die dachten, sie sei geistig behindert, aber das stimmt nicht. Ihr fällt es nur schwer, außerhalb ihres Fahrplanes zu denken, den sie sich macht, bevor sie mit jemandem spricht. Unterhaltungen versucht sie drei Schritte im Voraus zu lesen. Biegt jemand vorher ab, fliegt sie aus der Kurve und weiß nicht, was sie sagen soll. Läuft dann noch nebenbei Musik, ein Drucker rattert oder eine Fliege surrt durch den Raum, ist ihr Gehirn, das wie ein Hochleistungsrechner permanent Informationen verarbeitet und nichts ausblenden kann, überhitzt, schaltet einfach ab.

Birke Opitz-Kittel ist Asperger Autistin und »maskiert« ständig, wie sie das nennt, um nicht aufzufallen. Ihrer Kleidung sieht man an, dass sie nichts dem Zufall überlassen hat und das, obwohl sie sich überhaupt nichts aus Klamotten macht. Sie übt, anderen in die Augen zu schauen und lächeln vor dem Spiegel. Sie beobachtet, wie sich andere Frauen schminken, um bei Terminen so auszusehen, wie man das von einer Mitte 40-jährigen Frau und Mutter von fünf Kindern erwartet. Der ganze Aufwand, dabei verlässt sie ihre Wohnung in Fürth eigentlich höchst ungern. Konzerte, Urlaubsreisen, bei Freunden auf ein Glas Wein vorbeischauen, Horror. »Da, wo es für andere gemütlich wird, ist es für Birke am ungemütlichsten«, sagt Rolf, ihr Ehemann, der sie auf fast allen Terminen begleitet. Ihr ist es lieber, wenn jemand dabei ist, der weiß, welche Straße sie lang muss oder der antworten kann, wenn sie spontan angesprochen wird, eine Situation, vor der sie Panik bekommt. Rolf macht das gerne, hat Zeit, seit er wegen seiner Diabetes und Multiplen Sklerose früh verrentet ist. Ihm macht es nichts aus, überall dabei zu sein, so können sie mehr Zeit miteinander verbringen. Rolf ist ruhig, Anfang 40, groß und schlank, trägt eine Brille mit dünnem Goldrand, wie sie nach Berlin-Neukölln passt, weil seine Töchter ihm sagten, das sehe gut aus. Er spricht nicht viel, aber wenn er was sagt, hat es einen feinen Humor. Wenn Rolf keine Zeit hat, begleiten Opitz-Kittel ihre Töchter Miriam oder Lilly in die Außenwelt. Ihre Familie funktioniert wie ein altes Uhrwerk. Jedes Zahnrad greift ins andere. Die Familie als Monolith, als Trutzburg und Schutzschild.

Reizüberflutung

»Wenn ich komplett ich selbst bin, ecke ich unwillkürlich an«, sagt Opitz-Kittel. Um am Leben der »neurotypischen« Gesellschaft, wie sie es nennt, teilzuhaben, muss sie sich anstrengen, leidet still für sich. Am Ende des Tages ist sie froh, ihr Kostüm wieder abzulegen, das schwarze Kleid mit den weißen Rüschen an den Schultern, die akkurate, unaufdringliche Schminke abzuwischen, die kleine Kette mit den goldenen Anhängern abzulegen und wieder in ihre geliebte Jogginghose zu schlüpfen. Einzig die Haare sind noch zum strengen Zopf gebunden. »Wenn mir was im Gesicht hängt, ist das nur noch ein zusätzlicher Reiz, den ich nicht gebrauchen kann.«

Asperger Autisten nehmen die Welt ungefiltert wahr. Jedes Geräusch, jede Bewegung, Licht, Gerüche, alles prasselt auf sie ein und nichts davon können sie ausblenden. Es ist ein Leben in Dauerüberreizung, wie ein Konzert, in dem alle Instrumente ihre eigene Melodie spielen und das gleichzeitig. Ihr Gehirn der Dirigent. Dazu kommt, dass es Asperger Autisten schwerfällt, übliche Kommunikationsformen zu durchschauen. Opitz-Kittel versteht keine Ironie, Wortspiele und Redewendungen muss man ihr erklären, weil sie alles wörtlich nimmt. Soziale Verhaltensweisen lernt sie auswendig wie Vokabeln. Dass sie als Buchhalterin im Büro täglich neue Kostüme tragen muss, begriff sie erst, als ihre Kollegen über sie lästerten, weil sie zweimal dasselbe trug. Sofort machte sie sich einen Wochenplan, wann sie welches Outfit anziehen würde. Nie wieder sollten die anderen über sie lachen, das Gefühl schmerzte noch aus der Kindheit. »Die Gesellschaft ist noch nicht so weit, dass sie jemanden akzeptiert, der einfach vollkommen anders ist«, sagt Opitz-Kittel. Oft fühlt sie sich orientierungslos, es belastet sie, nicht zu wissen, was sie aus Sicht der Normgesellschaft falsch macht.

Lilly, das vierte ihrer fünf Kinder, hat lange nicht gemerkt, dass ihre Mutter anders ist als andere. Das fiel erst auf, als ihr klar wurde, dass jeder Tag einem bestimmten Muster folgt, das Opitz-Kittel bestimmte Abläufe immer wieder genauso macht, weil ihr das Sicherheit gibt und als auffiel, dass Lilly und die anderen so gut wie nie Freunde mit nach Hause bringen durften, weil ihre Mutter das verunsichert. Statt mit ihren Kindern zu kuscheln, verbrachte Opitz-Kittel Stunden damit, ihren Töchtern komplizierte Zöpfe zu flechten und Kleider zu nähen. »Einfach nur zu kuscheln fiel mir schwer, Zöpfe flechten und auf die Ernährung meiner Kinder zu achten, hatte hingegen einen sinnvollen Hintergrund für mich. Es ist nicht so, dass Autisten keine Gefühle hätten, aber sie drücken sie anders aus.« Lilly sagt, dass ihre Mutter immer Interesse an allem zeigt, was sie tut, das habe die Zärtlichkeiten ersetzt. »Oft habe ich erlebt, dass Eltern wenig über ihre Kinder wissen wollen, wie ihre Freunde so sind, welche Musik sie hören, was sie lieben und was sie hassen.« Opitz-Kittel ist neugierig, kann die Welt aber nur in sehr kleiner Dosierung ertragen, also sind die Kinder ihre Antennen nach draußen. Schon in der Kindheit fiel Opitz-Kittel auf, dass sie anders ist. Sie liebt die Nacht, weil die unendlich vielen Reize, die am Tag auf sie einhämmern, gedimmt und weil die Luft viel klarer ist. Kaum Autos, kein Vogelgezwitscher. Am liebsten war sie drinnen, was niemand verstand. Freunde hatte sie kaum.

In Gesprächen befindet sie sich in einer Ausnahmesituation, muss sich konzentrieren, dem anderen in die Augen zu schauen oder zu lächeln, wenn irgendetwas witzig gemeint war. Lächeln übt sie vor dem Spiegel, damit es nicht zu gekünstelt aussieht. Ihre soziale Interaktion mit Fremden gleicht einem Schauspiel. Alle Reaktionen, die bei anderen unbewusst ablaufen, muss sie auswendig lernen und einstudieren.

Ein Leben lang maskieren

Gerade für Frauen ist das »Maskieren« typisch, weshalb viel weniger mit Autismus diagnostiziert werden als Männer (das Verhältnis liegt je nach Studie bei 1:8 oder 1:3) und wenn dann erst sehr spät. Birke Opitz-Kittel bekam ihre Diagnose mit 37. Da war sie fünffache Mutter, hatte als Buchhalterin in einer Bank und bei einer Werbeagentur gearbeitet, was ihr gefiel, weil sie gerne Listen abarbeitet. Sie litt unter einer schweren Depression und unternahm einen Selbstmordversuch, der auf ihren stillen Schmerz zurückging, sich permanent anpassen zu müssen und die Angststörungen, die sie entwickelt hatte.

»Ich bin 45 Jahre, ich habe mein Leben lang nichts anderes gemacht, als zu maskieren«, sagt Opitz-Kittel. Ihre größte Furcht war, aufzufliegen damit, dass sie anders denkt, fühlt, dass es ihr schwerfällt, Gesichter zu lesen und zu erkennen - einmal verwechselte sie ihre Tochter mit einem anderen Mädchen - , dass sie Emotionen wie Vokabeln paukt, dass sie auch auf kurzen Wegen die Orientierung verliert und dass sie sich in der Schule in jeder Pause auf dem Klo einschloss, um wenigstens kurz das Wummern der Welt abzustellen. »Meine größte Angst war, nicht dazuzugehören. Es ist ein Vorurteil, nicht alle Autisten sind sozial distanziert, viele wollen Freunde haben, nur fällt es ihnen schwer, mit den vielen sozialen Normen zurechtzukommen.«

Opitz-Kittel erhielt damals die Diagnose Asperger-Syndrom, bei dem keine Entwicklungsverzögerungen in Sprache oder Intelligenz auftreten. Heute spricht man eher von einer Autismus-Spektrum-Störung. Die früher übliche Einteilung in drei verschiedene Autismustypen ist inzwischen unüblich, da viele Autisten auf dem Spektrum »gleiten« sagt Opitz-Kittel. Man geht davon aus, dass ungefähr ein Prozent der Bevölkerung autistisch ist. »Es sind also gar nicht so Wenige, jeder von uns ist sicherlich schon mal einem begegnet, ohne es zu merken, weil vor allem Frauen sich bemühen, es zu kaschieren«, sagt Opitz-Kittel. Es würde ihr helfen, wenn die Gesellschaft die Eigenheiten, die Autisten entwickeln, um sich in der neurotypischen Welt zurechtzufinden, akzeptieren würden. Ein Raum in Restaurants, in dem keine Musik im Hintergrund dudelt, wo nur ein paar Tische stehen, weniger irritierte Blicke, wenn sie vor lauter Nervosität wie verrückt an ihrem Fidgetspinner dreht, den sie immer dabei hat, wenn sie sich konzentrieren muss. All das würde Opitz-Kittel weniger Angst machen, die Wohnung zu verlassen.

Wenn sie nach Hause kommt, nach diesem anstrengenden Tag, an dem sie viel von sich erzählen musste, der permanent fragenden Autorin dabei immer wieder in die Augen schaute, weil man das so macht und gleichzeitig das Surren der Wespen ertragen musste, das sie genauso laut hörte wie die Gespräche am Nachbartisch, wenn das alles vorbei ist, dann kann sie ihre Maske abnehmen, sich in ihrer Jogginghose auf die Couch legen und die sechs Maine-Coon-Katzen beobachten. Das beruhigt, ungemein.

Über ihren Autismus und ihre Rolle als Mutter hat Birke Opitz-Kittel ein Buch mit dem Titel »Mama lernt Liebe. Wie ich als autistische Mutter gelernt habe, meinen Kindern Gefühle zu zeigen« geschrieben, das beim mvg-Verlag erschienen ist.

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