Megafone aus der Hölle

Panorama einer inneren Traum- und Albtraumwelt: Neo Rauch mit seiner neuen Ausstellung »Handlauf« in Leipzig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Auch bei Neo Rauch ist das Missverständnis eine wichtige Quelle der Erkenntnis. Um dieses kreist dann seine neue Ausstellung »Handlauf« in der Galerie Eigen + Art in der Alten Spinnerei in Leipzig-Plagwitz. Das Thema ist nicht neu, man denkt an Carl Spitzweg, dessen böse Kleinbürgerparodien aus der Mitte des 19. Jahrhunderts sich selbige Kleinbürger besonders gern als Reproduktion an die Wand hängten. Darunter ein Bild, das »Der Pass« heißt. Darauf ist ein fränkischer Zöllner zu sehen, der von einem Reisenden seine Dokumente zu sehen verlangt. Dieser versteht - des fränkischen Dialekts wegen - jedoch statt »Pass«, er solle seinen »Bass« zeigen, und weist auf das Musikinstrument neben sich. Das symbolisiert zwei Welten, die sich offenbar nicht verstehen können.

Neo Rauch spielt mit diesen biedermeierlichen Spitzweg-Kulissen. Aber in die bricht immer wieder die dämonische Welt eines Hieronymus Bosch ein. Dieser Zusammenstoß ist für Rauch der zwischen falschem Schein und verborgenem Sein in einer überaus fehlerhaft konstruierten Welt. Das titelgebende großformatige Bild »Handlauf« zeigt auf den ersten flüchtigen Blick eine realistische Szenerie, einen Tanz zwischen Mann und Frau zu der Musik eines anderen, etwas abseits stehenden Paares mitsamt ihren Instrumenten. Doch der Mann ist eine Doppelfigur, ein Kentaur. Vorn ein historisch im Stil des Biedermeier kostümierter Mann mit Stiefeln und rotem Rock, in der einen Hand hält er lässig eine Zigarette, mit der erhobenen anderen Hand führt er eine barfüßige Frau in einem eher modernen roten Kleid. Aber der Mann ist nur zur einen Hälfte Mensch, das hintere Körperteil scheint das eines Huftiers. Ein luziferischer Abgesandter? Auch die Frau ist nicht allein, ein drittes Bein ragt unter ihrem Rock hervor, ebenfalls nackt führt es den Schritt. Ein Kopf schimmert neben dem ihren. Ein Taktgeber.

Ist das hier denn tatsächlich ein Tanz, wie die Musik suggeriert? Es scheint, die Frau wird fortgeführt, abgeführt könnte man auch sagen. Die Szenerie ist grell ausgeleuchtet, die Körper werfen dunkle Schatten auf eine grüne Wand. In deren oberem Bereich ist ein perspektivisch nicht passendes Fenster zu sehen, das wie eine Drohung über den Köpfen schwebt. Rechts unten zeigt sich ein enger Eingang in eine Art Keller, ein quadratisches Mäuseloch. Führt der Kentaur die Frau dorthin, ist dies gar der Weg in den Hades, die tödliche Unterwelt? Am Boden vor den Füßen der Frau liegt ein gelber Kreisel, seine Zeit scheint vorbei oder noch nicht gekommen - obwohl die Musik doch immer noch spielt. Aber schaut man sich die beiden Begleitmusiker an, ist man nicht mehr sicher, ob das ihre eigentliche Funktion ist. Vielleicht klatschen sie bloß rhythmisch Beifall bei diesem Opfer, das hier gebracht (oder eher genommen) wird. Wie bei einem Comic - ein für Rauch wesentliches Stilmittel - lesen wir dann die Sprechblase »Handlauf«. Ein Kommando, mit dem das Untier die Frau abführt?

Das ist eine mögliche Interpretation, eine unter mehreren. Die Stärke von Rauchs Bildern liegt jedoch darin, dass sie jederzeit mehrdimensional bleiben, nicht künstlich verrätselt wurden, sondern ihrer Natur nach geheimnisvoll sind. Vielleicht ist es ein Rückblick auf eine ausgebliebene, weil abgesagte Walpurgisnacht - wegen des Lockdowns oder ein Fall von »Cancel Culture«? Was stattdessen stattfindet, das ist hier die Frage. Der Kreisel als Motiv setzt sich fort in der großen Anzahl der für die neue Ausstellung entstandenen Bilder. Es sind so viele, dass nicht alle an den Wänden Platz finden, doch der begleitende Katalog präsentiert sie. Eines heißt bezeichnenderweise »Die Mitte«. Wieder ein Mann und eine Frau (die gleichen, so scheint es, wie aus »Handlauf«, nur fehlt dem Mann diesmal die Kentaur-Leibhälfte) balancieren auf Kegelhälften. Die nächtliche Szenerie ist nur von einer Lampe hoch über ihnen erleuchtet. Eine fragiler Balanceakt.

In weiteren Bildern forciert Neo Rauch die wachsende Gefahr, die für ihn aus dem Gegensatz von Kunst und Ideologie resultiert. Bilder wie »Die Entzündung« zeigen den zivilisationsstiftenden wie zivilisationsvernichtenden Umgang mit dem Feuer. Beide Möglichkeiten liegen darin: Erhellung und Verbrennung. Wieder ein Doppelgängerpaar in surrealer Landschaft. Einer entzündet eine Lampe und einer gießt Benzin ins Feuer. Auffällig auch hier wieder die gedämpften Farben, sie lenken den Blick auf ein Lichtzentrum, die Bühne im Bild.

Es sind bedrohliche Traumszenarien, die Rauch malt. Der Künstler, der sich in seinem Werk in seiner inneren Zerrissenheit, mit seinen Fragen und Sehnsüchten dem Betrachter preisgibt, sieht sich mit Unverstand und Gefühlskälte konfrontiert. Rauch spricht an anderer Stelle sogar von wachsender »Blockwartmentalität« der Deutschen, ihrer erschreckenden Bereitschaft zur Denunziation. Vorsätzlich missverständliche Deutung wird angetrieben von kunstfeindlicher Ideologie. So kann man, wenn man will, in dem Bild »Der Hörer« den Maler selbst erkennen. An einem Tisch sitzend, die Arme aufgestützt, hält er sich die Ohren zu. Im Hintergrund werden Lautsprecher verbrannt. Rauch über diesen Mann: »Er kann das Gequatsche nicht mehr hören, er sehnt sich nach Ruhe, nach Einkehr, nach Kontemplation.« Stattdessen ist er mit einem Aktionismus konfrontiert, der ins Leere geht. Dafür steht der feindliche Lautsprecher: »Brüllorgan, Lärm, Lärmaggregat.«

Es geht Rauch offensichtlich darum, nicht immer nur selbst fortgesetzt Geräusche zu produzieren, sondern hinzuhören, wenn andere etwas zu sagen haben. Auch dann - und vor allem - wenn es einen nicht immer bloß bestätigt. Denn die Dauerbestätigung in homogenen Communitys stumpft ab; nur der ausgehaltene Widerspruch lässt die eigenen Grenzen überschreiten, macht klüger. Anders ist ein echtes Gespräch gar nicht möglich. Rauch geht noch weiter - er sucht den Lauscher, der Dinge hört, die im Lärm des Tages untergehen, aber dabei so wertvoll sind, Poesie etwa.

Der Prophet, zumal in seiner heutigen Gestalt als dauermedialer Manipulator, ist Rauch sehr fern. Wenn sein so metaphorisches Werk einen harten kritischen Kern hat, dann diesen: Megafone kommen für ihn direkt aus der Hölle, sie sagen nichts, sondern brüllen alles schon Gesagte nieder. An dieser Stelle folgt ein ungeschützt-klares Bekenntnis des Malers im Werkstattgespräch mit Ralph Keuning, das im Katalog nachzulesen ist: »Also, wer zum Megafon greift, ist automatisch mein Feind, das gebe ich unumwunden zu Protokoll. Und es ist immer eine negative Figur. Ein Daseinsentsüßer und Vergifter der Atmosphäre. Und es sind ja immer Ideologen, die zum Megafon greifen, und das sind meine Feinde.«

So breitet Neo Rauch hier ein ganz eigenes Panorama seiner inneren Traum- und Albtraumwelt aus. Wir streiten in der Kunst um Werte, die etwas mit gelebtem Formwillen zu tun haben. Wer die Formen angreift, die die Kunst uns gibt, der greift den humanen Kern des menschlichen Zusammenlebens an. Insofern betreffen Rauchs so symboltiefe Werke einen sehr aktuellen Streit um die Frage, welchen Stellenwert die Kunst in unserem Leben hat. Oder eben welche Folgen ihre Abwesenheit zeitigt. In diesem Sinne steht Rauch ganz in der Tradition des Bildungsfurors der Leipziger Schule, samt ihres umstrittenen Historismus.

Nein, auf zeitlose Weise harmlos ist keines der hier ausgestellten Werke. Sie zeigen den Menschen nicht mehr nur wie etwa bei Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte oder Bernhard Heisig in wechselnden geschichtlichen Situationen: Rauch erweitert das Bild um eine innere Dimension aus Angst und Hoffnung. So vor allem in »Glückshügel«. Da blicken wir in ein Laboratorium, in dem einer bleichen Gestalt, die von zwei dunkel maskierten Flügelmännern hereingeführt wird, ebenfalls Flügel montiert werden. Eine mysteriöse Szenerie. Ist dies eine teuflische Fabrik zur Herstellung von Engeln? Werden in diesem rauchigen Nibelheim Glücksversprechen produziert, lauter falsche Vehikel, um mit ihnen auf den sich im Hintergrund erhebenden »Glückshügel« zu gelangen? Ob es sich dabei um eine Fata Morgana handelt, die alles verspricht und nichts hält, oder aber um das eigene Werk, das vollendet in der Ferne leuchtet, bleibt offen.

»Neo Rauch - Handlauf« bis 12. Dezember in der Galerie Eigen + Art Leipzig. Der Katalog »Handlauf: Neues und Nachgereichtes« ist im Verlag E. A. Seemann erschienen und kostet 36 Euro.

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