Der Wahnsinn sucht sich sein eigenes Biotop

Nürnbergs irres Relegationsspiel gegen Ingolstadt in Buchlänge: Oliver Fritsch beschreibt »Fußball als Nahtoderfahrung«.

  • Sven Goldmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf Seite 56 kommt die Schwiegermutter ins Spiel. Hui, jetzt wird’s kompliziert - Schwiegermütter sind in der Literatur selten positiv besetzt, auch nicht in diesem Büchlein über ein wahnwitziges Fußballspiel, das im vergangenen Sommer die Sportsfreunde aus Nürnberg und Ingolstadt zusammengeführt hat. Mit Konsequenzen, die bis heute nachleben. Einer von denen, die am Sinn des Lebens zweifelten und dasselbe verfluchten, hat sich das Spiel im Kreis der Familie angeschaut. Es gehörte dazu auch die Schwiegermutter, und sie bedachte die Leidenden mit dem milden Tadel: »Himmel, es ist doch nur Fußball!«

Nur Fußball?!

Ist ein Flugzeugabsturz nur ein Verkehrsunfall? War die Wahl von Donald Trump nur eine souveräne Entscheidung des amerikanischen Volkes? Es ging bei diesem Fußballspiel zwischen Nürnberg und Ingolstadt vordergründig um die Zugehörigkeit zur Zweiten Liga oder die Verbannung in die Dritte, darüber hinaus aber wie bei vielen anderen Fußballspielen um mehr als Leben und Tod.

Oliver Fritsch hat »Fußball als Nahtoderfahrung« verfasst. Es gibt in Deutschland keinen Journalisten, der den großen Fußball besser seziert als Oliver Fritsch. Einer, der nicht kritisiert um der Kritik willen, sondern sich wie Hans-Joachim Friedrichs nicht gemeinmacht mit einer Sache, und sei sie noch so gut.

Für die »Zeit« hat er 2014 das berauschende deutsche 7:1 gegen Brasilien in Belo Horizonte so nüchtern verfolgt wie auch den Sieg ein paar Tage später im WM-Finale gegen Argentinien. Bei Ingolstadt gegen Nürnberg aber ist Fritsch nicht Journalist, sondern Fan, wenn auch auf dem zweiten Bildungsweg: als Ehemann der Nürnberger PR-Chefin. Er selbst sagt dazu: »Gibt es einen überzeugenderen Beleg, dass man ein moderner und emanzipierter Mann ist, wenn man seiner Frau in der Frage folgt, zu welchem Verein man hält?«

Oliver Fritsch hält also zu Nürnberg, natürlich auch gegen Ingolstadt in diesem, nun ja: Relegationsrückspiel. Das ist ein Begriff, der außerhalb der Fußballgemeinde nicht mal fragende Blicke provoziert. Es duellieren sich der drittletzte Zweitligist und der drittbeste Drittligist. Nicht die ganz hohe Schule, aber der Wahnsinn sucht sich sein eigenes Biotop, und er ist dabei nicht immer wählerisch.

Nürnberg ist alter Fußballadel, mehrfacher im vergangen Jahrhundert, gesegnet mit einer Fangemeinde, die nicht unbedingt dem sportlichen Stellenwert entspricht. Nürnberg ist 1969 als amtierender Deutscher Meister in die Zweite Liga abgestiegen, 2008 ebenso als Pokalsieger. Leidenschaft schafft Leiden. Aber was waren die Abstiege von 1969 und 2008 gegen das Relegationsrückspiel von 2020?

Zur Vorgeschichte: Nürnberg steigt im Sommer 2019 aus der Ersten Liga ab, wird in der Zweiten nach unten durchgereicht, entlässt einen Trainer und später noch einen und gewinnt doch das erste Relegationsspiel gegen Ingolstadt. 2:0, klare Sache, Zukunft gesichert. Doch beim Rückspiel ein paar Tage später schießt Ingolstadt in 13 Minuten drei Tore, und Nürnberg ist tot. Gewiss, tot - nichts anderes würde ein Abstieg in die Dritte Liga bedeuten. Denn Nürnberg hat kein Geld, und in der Dritten Liga gibt es keins, das allmächtige Fernsehen interessiert sich nicht dafür.

Es gibt dann doch ein Happy End, mit einem Tor in der sechsten Minute der Nachspielzeit und einer irrsinnigen Auswärtsregel. All das hinterlässt Spuren, die die Internationale der Kardiologen bedenklich stimmen dürfte.

Oliver Fritsch lässt diese 30 denkwürdigen Minuten wieder aufleben im Gespräch mit einem Freund, der kein angeheirateter Fan ist, sondern einer von Geburt an. Der den Sohn eines Freundes anherrscht, er möge sich bitte mal umziehen, weil der ein Trikot des FC Bayern trägt. Dessen Papa wartet auf ein Augenzwinkern, aber es kommt keines. Fußballfans sind nicht, was der rechte Sprachgebrauch als Gutmenschen beschimpft.

Die beiden leiden und lieben 184 Seiten lang so intensiv, dass auch Nicht-Nürnberger, -Ingolstädter und -Fußballfans mitleiden. Es treten auf: zwei harte Jungs mit großflächig tätowierten Armen, die auf einem Sofa gemeinsam und ergriffen weinen. Ein Fan, der seinem Sohn beim unkontrollierten Jubel um ein Haar die Nase bricht. Ein anderer, der so laut schreit, dass ihm das Blut in den Rachen steigt, worauf ihm der Arzt eine Hirnblutung diagnostizieren will.

Und, natürlich, auf Seite 56 die Schwiegermutter, die all das nicht verstehen kann und anmerkt: »Himmel es ist doch nur Fußball!« Worauf der Schwiegersohn eine Wasserflasche auf den Boden wirft und brüllt: »Jetzt halt endlich den Mund!«

Oliver Fritsch: Fußball als Nahtoderfahrung. Star Fruit Publications, 184 S., geb., 25 €.

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