Erstklassige Widersprüche

Im Fußball erstrahlt die »contradict-yourself-culture« in vorweihnachtlicher Pracht. Christoph Ruf fragt sich trotzdem, wie man jemandem ohne Absicht mitten ins Gesicht spucken kann.

Stille Nacht in den Kneipen und Restaurants, still und starr ruht der See in Kitas und Schulen. Nur der deutsche Profifußball hält einsam Wacht und kickt bis zum 23. Dezember um 22 Uhr 34. Dann dürfte, grob geschätzt, auch die Nachspielzeit der letzten DFB-Pokalspiele vorbei sein, ehe es am 2. Januar schon wieder weitergeht mit dem systemrelevantesten Freizeitvergnügen der Republik.

Wenige Stunden nach den letzten Pokalspielen ist dann Heiligabend. Dann dürfte der Schauspieler Matthias Brandt nicht der einzige sein, der sich unterm Weihnachtsbaum fragt, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn sie das kulturelle Leben auf null herunterfährt, dem Profifußball aber seine Spielwiese lässt. Brandt vermutet, dass das mit erfolgreichem Lobbyismus zu tun haben könnte. Ein ungeheuerlicher Gedanke. Ob da etwas dran sein könnte?

Nun will ich den vorletzten »Sonntagsschuss« des Jahres nicht mit dem Thema Lobbyismus vergeuden. Es soll aber natürlich schon um die großen Fragen gehen, die die Welt bewegen. Die werden im Fußball - Camus hin, Menotti her - zwar definitiv nicht verhandelt, aber manchmal ist die Fußlümmelei, wie sie im 19. Jahrhundert noch genannt wurde, doch ein echter Trendsetter. Die »cancel culture« kennt man ja schon. Aber die »contradict-yourself-culture«, die gibt es in ihrer schönsten Form nur im Fußball.

So las ich vergangene Woche, dass der Wolfsburger Stürmer Wout Weghorst auf Instagram ein Foto gepostet hatte, dessen Subtext sich in etwa so übersetzen lassen konnte: »Stellt euch vor, es gäbe einen Impfstoff, der so sicher wäre, dass Sie gezwungen werden müssten, ihn zu nehmen - für eine Krankheit, die so tödlich wäre, dass man getestet werden müsste, um zu wissen, ob man sie hat.« Versehen hat Weghorst das mit dem Aufruf, die Menschen mögen sich selbstständig informieren. Dahinter drei Ausrufezeichen. Was Weghorst mitteilen wollte, scheint ihm also wichtig gewesen zu sein. Und wenn man sich nicht völlig täuscht, dürfte er sich damit als Anhänger der These geoutet haben, wonach obskure Mächte ein Interesse daran haben, die Menschheit zwangsweise zu impfen, um ihre finsteren Pläne durchsetzen zu können. Vielleicht war er als Kind aber auch nur auf einer anthroposophischen Schule, dann gilt die Skepsis gegenüber medizinischer Evidenz als Ausweis höherer Bildung.

So oder so bin ich - Sie merken, »cancel culture« ist nicht so mein Ansatz - ganz entschieden der Meinung, dass man in einer Demokratie auch aushalten muss, wenn Menschen Unsinn reden. Vielleicht bin ich aber auch nur zu unsensibel, um nicht ständig in Tränen auszubrechen, wenn ich Dinge lese, die ich anders sehe.

Weghorst jedenfalls schickte kurz darauf ein Statement, das ganz anders klang: »Ich habe im Bekanntenkreis selbst viele Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben und weiß daher genau, was dieses Virus für Auswirkungen hat und wie gefährlich es sein kann. Es ging mir lediglich darum aufzuzeigen, dass man sich so gut wie möglich selbst informieren sollte und sich dabei auch möglichst viele unterschiedliche Meinungen anhört. Nur das wollte ich mit meinen Posts ausdrücken, was mir leider misslungen ist.« Wie konnte das nur passieren?

Wer nun dachte, dass Weghorsts Worte der Beweis sind, welch komplexe Menschen Fußballer doch sind, dass sie so meinungsstark sind, dass sie sich innerhalb weniger Stunden selbst widersprechende Ansichten vertreten können, der bekam am Samstag ein noch besseres Beispiel für diese These. Da spuckte Gladbachs Marcus Thuram seinem Hoffenheimer Gegenspieler Stefan Posch aus kurzer Distanz ins Gesicht. Was so ziemlich das Widerlichste sein dürfte, das im Fußball mit einer Roten Karte bestraft wird. Dass sich Thuram dafür entschuldigte, ist handelsüblich. Die weiteren Worte seines Tweets überraschen allerdings ein wenig. »Es war ein Versehen und nicht beabsichtigt.« Vielleicht fahre ich am Mittwoch doch noch zu Matthias Brandt unter den Weihnachtsbaum und denke darüber nach, wie man jemanden unabsichtlich anspucken kann.

An Stefan Poschs Stelle hätte ich am Samstag wohl spontan die Faust ausgefahren. Selbstverständlich ohne jede Absicht.

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