»Erschreckendes Bild ostdeutscher Normalität«

Nebenklageanwältin Kati Lang über den Attentäter, sein Umfeld und die Vorbildwirkung von Prozessen

  • Max Zeising
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Attentat vom 9. Oktober 2019 hat weltweit Bestürzung ausgelöst. Ebenso erfuhr der Prozess gegen Stephan B. internationale Beachtung, viele Medien berichteten darüber. Lässt sich dem Prozess eine historische Bedeutung zusprechen?

Ich würde schon von einer historischen Bedeutung sprechen, weil wir es mit einem der schwersten antisemitischen Anschläge seit dem Ende des Nationalsozialismus zu tun haben. Der Prozess hat auch deshalb eine große Bedeutung, weil eine Vielzahl der jüdischen Nebenkläger vorgetragen hat, dass ihre Großeltern nicht die Chance hatten, vor einem deutschen Gericht auszusagen.

Kati Lang

Die Rechtsanwältin vertritt Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten. Unter anderem war sie als Nebenklagevertreterin im Verfahren gegen die Rechtsterroristen der Gruppe Freital beteiligt. Max Zeising sprach mit ihr über den Prozess von Halle.

Der Attentäter wollte das Verfahren als Bühne für die Verbreitung seiner antisemitischen und rassistischen Weltanschauung nutzen. Ist ihm das gelungen?

Aus juristischer Sicht: nein. Ich kann verstehen, wenn Nichtjuristen die Wahrnehmung hatten, dass er in Teilen sehr ausschweifende Ausführungen machen konnte. Die Vorsitzende Richterin hat ihn aber weitestgehend beschränkt und insbesondere durch ihre Art und Weise der Befragung den Raum für ihn so klein wie möglich gemacht.

Auch wenn Stephan B. allein handelte, war er de facto kein Einzeltäter, sondern Teil einer Online-Community, die ihn in seinem Vorhaben bestärkte. Auch das Familien- und Wohnumfeld in Benndorf gilt als begünstigend für seine Radikalisierung. Hat der Prozess genügend Aufklärung hierüber gebracht?

Die Familie des Angeklagten wollte sich nicht äußern. Das ist ihr gutes Recht. Deshalb wissen wir von seinen direkten Verwandten erst einmal wenig. Doch der ehemalige Freund der Schwester musste aussagen, und auch diverse Arbeitskolleginnen der Mutter haben ausgesagt. Es zeichnet sich ein erschreckendes Bild ostdeutscher Normalität ab: dass Rassismus und Antisemitismus nicht als abweichend wahrgenommen werden. In diesem Umfeld hat der Angeklagte wohl nicht viel Widerspruch erfahren.

Die Ermittlungsbehörden zeigten sich während des Prozesses teils unfähig im Umgang mit Imageboards, über die sich der Täter radikalisierte. Ebenso wurde deutlich, dass die Polizei für die Bekämpfung von Antisemitismus offenbar nicht genügend sensibilisiert ist. Worin genau bestand das Problem?

Obwohl klar war, dass sich der Attentäter auf Imageboards bewegt, hat sich in den Akten und Zeugenaussagen des Bundeskriminalamts dazu nichts gefunden. Dass man sich auf Imageboards anonym bewegt, welche Sprache dort benutzt wird, wie die Inhalte rezipiert werden - das alles konnte das BKA überhaupt nicht darlegen. Das ist ein Totalausfall. Auch die BKA-Mitarbeiter, die wir zum Gaming-Verhalten des Angeklagten vernahmen, haben überhaupt keine Vorstellung davon. Man hatte das Gefühl: Die nehmen einfach junge Leute in der Hoffnung, dass die sich schon mit diesem »ominösen« Internet auskennen werden.

Während der Verhandlungstage berichteten Betroffene, welche seelischen Verletzungen der Anschlag bei ihnen hinterlassen hat. War der Prozess auch in diesem Sinne einzigartig? Kann er gar Vorbildwirkung für künftige Verfahren entfalten?

Richterin Ursula Mertens hat Maßstäbe gesetzt, wie man den Umgang mit Betroffenen so gestalten kann, dass dieser nicht zwangsläufig retraumatisierend, sondern auch stärkend wirken kann. Die Betroffenen haben mit der Nebenklage Empowerment erfahren. Nicht immer, denn der Prozess ist eine permanente Konfrontation mit der Tat und dem Täter. Doch das Gericht hat, soweit es juristisch möglich war, den Betroffenen eine eigene starke Rolle gegeben und sie sehr wirkmächtig sein lassen. Ich hoffe, dass sich andere Gerichte ein Beispiel daran nehmen.

Was lehrt uns der Prozess für den künftigen Umgang mit Radikalisierung?

Wir sind immer bei der Frage: Wie viel Antisemitismus und Rassismus wird gesellschaftlich gutgeheißen und unterstützt? Wenn man dort nicht den Schalter umlegt, dann werden wir immer das Problem haben, dass sich Leute von dieser sogenannten Mitte aus unterstützt fühlen und weiter radikalisieren. Das haben wir bei allen rassistischen und antisemitischen Taten: Die Täter sehen sich als Vollstrecker eines tatsächlichen oder vermeintlichen »Volkswillens«. Die Mehrheitsgesellschaft muss sich aufraffen, Minderheiten aktiv zu unterstützen und zu schützen.

An welchem Punkt sehen Sie denn die Mehrheitsgesellschaft?

Die Frage ist wohl eher: An welchen Zustand haben wir uns gewöhnt? Halle, Hanau und der Mord an Walter Lübcke innerhalb kurzer Zeit - das sind zu viele Tote.

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