Ein Angebot für Ambiguität

Der Sach-Comic »Gender-Kram« bietet einen Überblick auf die komplexe Welt des Geschlechts

  • Anna Panhoff
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein in überwiegend weiblicher Form verfasster Gesetzesentwurf kann auch im Jahr 2020 für Empörung sorgen. So geschehen bei dem Versuch des Justizministeriums, den Referentenentwurf zum Sanierungs- und Insolvenzrecht in geschlechtergerechter Sprache vorzulegen. Aber wie der großen Aufregung um das vermeintliche »Gender-Gaga« beikommen, wenn nicht durch Aufklärung? Louie Läuger macht mit ihrem Sach-Comic »Gender-Kram« ein Angebot an alle, die sich bisher noch nicht ausführlich mit Geschlecht auseinandergesetzt haben und einen leicht zugänglichen Einstieg bevorzugen. Läuger, selbst queere, intersektionale Feminist*in, führt als Comicfigur durch das Buch und will, im Austausch mit der Leser*in klären, was Geschlecht eigentlich bedeutet. Es werden dabei nicht nur Grundlagenwissen, sondern auch die möglichen persönlichen und politischen Implikationen untersucht, die dem neuen Wissen folgen (können). Als Basis erklärt Läuger zunächst das Konzept der Intersektionalität: »Ich stelle mir Intersektionalität gerne wie ein Wollknäuel vor: Zieht man irgendwo einen Faden raus, gibt es einen Knoten. Stattdessen muss beachtet werden, wie die Fäden übereinander liegen: Wo überschneidet sich was und warum?«.

Im zweiten Kapitel wird das zugeschriebene Geschlecht beschrieben: Wie unsere Gesellschaft auf Basis von körperlichen Merkmalen Menschen in »Mann« und »Frau« sortiert und biologische Eindeutigkeit lediglich suggeriert, wird anhand mehrerer Beispiele deutlich. Heutige Perspektiven auf Geschlecht werden dabei aber immer auch in ihrer historischen Gewordenheit betrachtet. Die Ausführungen über Inter*geschlechtlichkeit werden so zu einem historischen Exkurs, der klar macht: Inter*geschlechtlichkeit hat es schon immer gegeben, nur die Sicht darauf und der Umgang damit haben sich verändert.

Der Vorstellung der Binarität der Geschlechter wird auch im Kapitel »Geschlecht als soziales Konstrukt« widersprochen, wobei unterschiedliche Zuschreibungen in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten berücksichtigt werden. Dass soziale und kulturelle Rollenerwartungen sich auch auf biologische Merkmale auswirken, stellt den Anspruch einer »Natürlichkeit« geschlechtlicher Zuweisungen in Frage: »Kinder, die ermutigt werden, mit Bauklötzen zu spielen, entwickeln andere Gehirnregionen weiter, als solche, die mit Puppen spielen sollen und dürfen.« Um zu begründen, wie das sozial konstruierte binäre Geschlechtsmodell in unserer Gesellschaft weiterhin machtvoll wirksam bleibt, illustriert Läuger das Zusammenwirken eben jener heteronormativen Vorstellungen und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Diese komplexen Zusammenhänge werden auch für jüngere Leser*innen verständlich erklärt.

Einen besonderen Teil im Sach-Comic nehmen die verschiedenen Geschlechterausprägungen ein; Louie Läuger hat dafür Gespräche mit über 50 Personen geführt und sie als Expert*innen für ihr eigenes Geschlecht befragt. Dass es mehr als zwei gibt, kann durch die eindrücklichen Schilderungen individueller Perspektiven eigentlich gar nicht mehr infrage gestellt werden. Die Macht über die eigenständige Definition wird durch die Darstellungen in den Mittelpunkt gestellt: »Du definierst, wer du bist.« Dies schlägt sich ebenso im sprachlichen Ausdruck nieder: wie eine Person genannt werden möchte und welche Pronomen dafür geeignet sind, darf jede*r für sich selbst bestimmen.

Die Leser*innen sollen angeregt werden, sich die eigenen Bedürfnisse bewusst zu machen. Darum geht es auch, wenn Läuger über das Coming Out/Inviting in schreibt. Der Begriff »Inviting in« (Einladen) grenzt sich dabei von einem Sich-Offenbaren in einer heteronormativen Gesellschaft ab und setzt den Fokus stattdessen darauf, dazu einzuladen, in die Welt der vielfältigen Geschlechter einzutreten. Als eine solche Einladung kann auch Läugers Buch verstanden werden.

Von Beginn an werden gerade junge Leser*innen an die Hand genommen und ermutigt, einen liebevollen Blick auf sich selbst zu haben. Läuger ist stets bemüht, zu verdeutlichen, dass auch ihre Perspektive nur eine von vielen ist und Geschlecht stets im Diskurs verhandelt wird. Dass auch hier nicht der letzten Weisheit Schluss verkauft wird, mag einige, die sich im vermeintlichen »Gender-Gaga« nicht zurecht finden mögen, vielleicht enttäuschen. Doch gerade dies ist eine besondere Stärke von Läugers Werk: Die eindeutigen Antworten bleiben aus, es besteht aber das Angebot, die Ambiguität, die Geschlecht mit sich bringt, gemeinsam auszuhalten und zu diskutieren. Im Mittelpunkt steht, dass Geschlecht auf persönlicher Ebene ganz unterschiedlich definiert werden kann und darf.

Die liebevollen Illustrationen unterstreichen diese Aussage: Ihr Buch gibt höchst unterschiedlichen Personen eine Stimme und eben auch ein Bild - alle haben hier Raum und somit eine Berechtigung, erwähnt zu werden. So ist »Gender-Kram« nicht nur ein Buch zur Aufklärung über Geschlechtervielfalt oder eine Anregung zur Reflexion über gängige Geschlechterpraktiken, sondern auch notwendige Sichtbarmachung marginalisierter Stimmen.

Louie Läuger: Gender-Kram. Illustrationen und Stimmen zu Geschlecht. Unrast. 232 S., br., 18 €.

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