Babuschka im Samowar

Tamri Fkhakadze erzählt vom Irrwitz der postsowjetischen Kaukasuskriege

  • Lesedauer: 8 Min.

Ende Juli verschlimmerte sich die Situation auf unserer Seite endgültig. Wir wurden zu einem richtigen Gebiet, einem Kriegsgebiet. Die ganze Welt hörte davon. Im Fernsehen wurde darüber berichtet, man redete im Radio darüber, im Bus, überall … Selbst Zaliko in Amerika hörte davon. Er rief mich an.

»Robinzon, alo!«

Autorinnen

Tamri Fkhakadze, 1957 in Tbilisi geboren, ist promovierte Philologin, Schriftstellerin, Szenaristin und Dramaturgin. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Kinderbücher. In Georgien ist sie eine viel gelesene Autorin; sie setzt sich kritisch mit den Entwicklungen seit der Unabhängigkeit auseinander, nutzt oft phantastische Elemente und pflegt einen subtil feministischen Blick auf die Welt, selbst wenn sie aus männlicher Perspektive schreibt. Ihre Erzählung »Gärtnern im Kriegsgebiet« behandelt den Irrwitz des Abchasienkrieges der 2000er Jahre und wurde als Theaterstück auf die Bühne gebracht.

Iunona Guruli, geboren 1978 in Tbilisi, studierte Schauspiel, Journalistik, Politik und Geschichte und lebt seit 1999 in Deutschland. Sie begann spät als Übersetzerin zu arbeiten – für ihr Debüt »Die Diagnose«, eine ungeschönte Beschreibung der Lebenssituation junger Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, erhielt sie 2016 den Saba-Literaturpreis. 2018 erschien der Erzählband unter dem Titel »Wenn es nur Licht gäbe, bevor es dunkel wird« in Deutschland. 2020 wurde eine Erzählung Gurulis als Künstlerbuch bei der Corvinus-Presse veröffentlicht.

Ich erkannte ihn sofort. Wie könnte ich nicht sofort den Bruder erkennen, aber ich tat so, als ob ich ihn nicht hören könnte, als ob seine Stimme nicht zu mir durchdränge. »Alo, alo! Alo! Alo-Alo!« sagte ich, »Pfhh! Pfhh!«, ich pustete … Ich versuchte mich halbwegs zu fassen. Ich wollte mein rasendes, bis in den Hals schlagendes Herz zurück an seinen Platz drängen. Ich wollte, dass nicht eine Spur von Trauer oder Vorwurf aus meiner Stimme herauszuhören wäre.

»Robinzon! Alo! Ich bin es, Zaliko, Junge!«

»Jaa«, brachte ich mit Mühe heraus.

»Wie geht es dir, Junge? Es geht dir doch gut, oder? Was ist los bei uns, Junge, was geschieht dort?! Halte dich davon fern, lass dich dort noch nicht mal blicken! Gott bewahre, dass sie dich töten, Junge, oder als Geisel nehmen … Jetzt freue ich mich über meine damalige Entscheidung … Wenigstens wirst du dich nicht in der Gegend herumtreiben. Du bist doch gar kein Kämpfer, außerdem … Robinzon! Alo!«

»Alo …«, entgegnete ich mit gedämpfter Stimme …

»Alo … Alo … Phhhu … Phhhhu! …«

»Mist! Die Leitung ist tot, verdammt …«, brummelte Zaliko und hängte auf.

Ich blieb mit meinem Kummer allein. Schließlich stand ich auf, schenkte mir in ein kleines Glas Wodka ein und kippte es in einem Zug. Dann ging ich in die Küche, setzte mich an den Samowar der Babulja und betrachtete mein Gesicht in dessen aufgeblähtem Bauch. Die Nase - wie eine Birne. Die Lippen - wulstig wie bei einem Afrikaner. Augen - wie von einem Kalb. Ich musste lachen. Pferdezähne bleckten auf. Mir kam es vor, als wäre die Seele der Babulja in diesem Samowar stecken geblieben. Als hätte sie sich dort ganz gemütlich eingenistet. Ich klopfte mit dem Finger an den Samowar.

»Hey! ... Babulja … Zdes ti, da?«, fragte ich, während ich auf das Abbild meiner Kalbsaugen und Birnennase schaute. Wie sehe ich denn aus?

»Zaliko pazvanil sitschas. Hörst du? Aus Amerika! Gavarit, ni chadi tuda, vajna … Otschen charascho zdelal, schto pradalo. Hm! Warte, ich trinke noch einen. Bleib da. Padazhdi … «

Ich stand auf, schenkte mir noch ein Glas Wodka ein, kehrte zum Samowar zurück und trank weiter. Huu!

Mein Gesicht erzeugte im Samowar-Spiegel ohnehin keine sonderliche Schönheit, aber als ich nach dem Austrinken eine Grimasse schnitt, sah ich noch scheußlicher aus. In diesem aufgewühlten Zustand überwältigte mich der Wodka wie Feuer mit Benzin übergossenes Kleinholz.

»Sluschaj, Babulja … Tebje charascho dort, nicht? V samawarje. Gott segne dich! Also, mnje tam charascho … Pradal Zaliko? - Pradal! Egal … Trotzdem brat, panimajesch? … Jetzt … Jetzt, Babulja, agarod u menja tam. Ein Gemüsegarten! Tomaten, Mais, sowas … Warte, ich will noch einen trinken … Pridu sitschas …« Ich schenkte mir noch ein Glas Wodka ein. Wieder setzte ich mich an den Babulja-Samowar.

»Zaliko gavarit, waina tam, und wieso zum Geier brauche ich dort etwas! Jetzt freue ich mich, dass ich es verkauft und die Gefahr von dir abgewendet habe, meinte er. Heeh! Nitschiwo Zaliko ni znajet! Nitschiwo! Tam … Tam… Wenn du jetzt bloß sehen könntest, Babulja, wie dort alles blüht, wie! Es ist doch eine Schande, wenn es dort Geschosse regnet. Nur der Frühlingsregen soll dort fallen …«

»Ich kann dort nicht über Nacht bleiben! So sieht es aus. Aber du sollst wissen, dass es ernsthaft verteidigt werden muss. Da ist keine Zeit mehr für ein Hin und Her! Entweder bleibst du hier, Bruder, und verteidigst es wie ein Mann bis zum bitteren Ende, oder du packst deine Sachen und gehst fort!«

»Nee! Weißt du, was ich machen werde, Babulja? ... Ich fahre morgen hin, befestige an meiner Bank ein paar Bretter an den Seiten und decke das Ganze mit Stroh! So, dass man sich hinlegen kann und nicht im Regen steht … Panimajesch, Babulja? Dann werde ich dort auch nachts bleiben können …«

So schlief ich ein, an den Samowar gekuschelt. Am nächsten Morgen packte ich meine Sachen. Schon die Fahrt wurde zu einem Problem, Mann … Auf die andere Seite rübergehen, dann zurückkehren … Polizei … Armee … eine Menge Beobachter beobachten irgendetwas … Mit Kameras bewaffnete Journalisten laufen herum … Regierungsfahrzeuge sind unterwegs … Es ist ein Gebiet, ein Kriegsgebiet! Ich bin auch hier und versuche standzuhalten.

Pjuuu! - eine Kugel fliegt vorbei. Bammm! - eine Handgranate oder ein ähnliches Teufelsding explodiert. Bum-Bum-Bum-Bum - Geschütze feuern.

Ich bleibe. Ich rühre mich nicht vom Fleck. Wie ich es mir vorgenommen habe, baue ich mir einen Unterstand und harre dort munter aus. Wir werden das schon schaffen! Soll doch jemand kommen und mir sagen, geh mal zur Seite, jetzt bin ich da! Der wird schon sehen, was daraus wird! Nur die Tatsache, dass man uns von drüben beschießt, macht mich fertig. Noch halten sich unsere Jungs zurück! Noch wollen sie ein Blutvergießen oder sowas vermeiden … Vielleicht kommen sie ja zur Vernunft, so denken sie. Nicht, dass es uns an irgendetwas fehlt … Schau dir doch mal unseren Stab an!..

Mein Stab war mein Gemüsegarten. Dort befand sich mein Unterstand und auch alles andere. Anfänglich hielt ich mich zurück, aber letztlich legte ich mir das Jagdgewehr meines Vaters unter den Kopf und hängte mir Zalikos Fernglas um den Hals … Genau jenes, das er gekauft hatte, um Manana zu beobachten. Ehe er sie heiratete, schaute er wie ein Schiffskapitän aus der Loggia der Babulja auf die Loggia der Kupatadzes, gleichzeitig aber entgingen auch andere Frauen nicht seiner Aufmerksamkeit.

Irgendwann kamen mein entfernter Cousin Omara und seine Frau in meinen Gemüsegarten. »Junge, was ziehst du hier ab, das ganze Dorf redet schon über dich«, sagte Omara zu mir.

»Was meinst du?«, wunderte ich mich.

»Junge, jeder spricht über dich und deinen Gemüsegarten! Schaut, wie Robinzon seinen Gemüsegarten verteidigt … Wie Robinzon zu seinem Gemüsegarten steht …«

»Hut ab, Robinzon, Hut ab!«, sagte auch seine Frau Natia.

»Wie sehr du diese Gegend liebst, Junge … Verdammt sei Zaliko … Junge, wie oft sagten wir dir, bleib doch zumindest die Nacht über bei uns, Mann. Unter unserem Dach … Du bist hier ja ganz allein; nicht, dass dich jemand tötet …«

»Ist gut … Ich bleibe lieber hier«, entgegnete ich, »ich habe meinen Stab hier.«

Wir waren mitten im Gespräch, als plötzlich die Hölle losbrach! … Ein Schießen und Gegackere! Aus allen möglichen Richtungen flogen die Kugeln und Granaten! Anscheinend machten sie jetzt ernst! Die sind ja richtig übergeschnappt! Die sollen erst mal abwarten! Wir können genauso gut gackern und ballern!

Alle drei lagen wir auf dem Boden. Ich, Omara und seine Frau. Omara knirschte wie ich mit den Zähnen.

Als es stiller wurde, erhob das Dorf wieder sein Haupt. Mal schauen, wessen Dach getroffen wurde, wessen Zaun … Plötzlich sah ich, wie Oleg hinkend in meine Richtung lief … Eine Hand presste er auf seinen Oberschenkel … In rauhen Menge floss das Blut an seinem Bein herunter. Der Mann war verwundet!

Unsere Jungs, die Soldaten, schnappten ihn sich, legten ihn auf die Trage aus Zeltbahn und brachten ihn zum Sanitätswagen. Ich rannte ihnen hinterdrein und holte sie ein.

»Oleg«, sagte ich zu ihm, »mach dir keine Sorgen, Junge … Ich passe auf dein … dein Haus und deinen Hof genauso auf wie auf meinen Gemüsegarten!..«

Frau und Kinder hatte er längst in die Sicherheit gebracht. Nur Haus und Hof blieben schutzlos zurück …

Im Eiltempo brachte man ihn, auf der Trage liegend, weg. Ich lief neben ihm her … Er schaute mich von unten an, leckte sich die ausgetrockneten, blau angelaufenen Lippen und sagte zu mir:»Ich hätte den Walnussbaum nicht fällen dürfen … « Man legte ihn in den Wagen und brauste mit ihm davon.

Seit diesem Tag fuhr ich nicht mehr in die Stadt zurück. Ich werde es auch nicht tun, ehe sich die ganze Situation beruhigt hat. Und bis ich mir sicher bin, dass weder meinem Gemüsegarten noch Olegs Haus und Hof, weder dem Pappelspalier noch dem Brombeerhügel eine Gefahr droht … Allem hier …

Letzte Woche pflückte ich in meinem Gemüsegarten große Mengen roter Tomaten, Paprika, Lauch, Knoblauch und Kräuter und brachte alles den Jungs in den Stab. »Mann, du bist der Beste«, klopften sie mir auf die Schulter und ließen mich gar nicht mehr weg. Wir aßen zusammen. Dann hängte der Stabschef mir ein Maschinengewehr über die Schulter, gab mir noch eine Panzerabwehrgranate und eine Militärmütze … Grün gescheckt.

»Hier, Bruder, und pass auf dich auf … Du bist ein prima Kerl …«

Im Dorf wurde so viel über Robinzons Gemüsegarten geredet, dass mich am gestrigen Abend ein Journalist mit einer Kamera aufsuchte. Mal fotografierte er mich mit dem Maschinengewehr, mal ohne, mal neben meinen Erbsen und Tomaten … Mal ließ er mich durch das Fernglas schauen …

»Was verteidigen Sie eigentlich? Einen Gemüsegarten?«

»Ja«, antwortete ich, »meinen Gemüsegarten.«

»Ist dieser Gemüsegarten für Sie nur ein Gemüsegarten oder noch etwas anderes?«

»Ja, keine Ahnung, etwas anderes … «

»Was konkret?«

Kaum fiel das Wort »konkret«, fing wieder das Geballere und Gegackere an. Ich schnappte mir mein Maschinengewehr und rannte wie gestört zwischen meinem Gemüsegarten und Olegs Gehöft hin und her.

»Ihr verdammten Hurensöhne!«, schrie ich und ballerte los, »was wollt ihr? Habt ihr noch nie ein Haus gesehen?! Habt ihr noch nie einen Hof gesehen?! …«

Tamri Fkhakadze:
Gärtnern im Kriegsgebiet und andere Erzählungen
Aus dem Georgischen von Iunona Guruli
Dağyeli-Verlag
128 S., geb., 18,00 €

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