Eine Busfahrt mit Dame und Sarg

Ein einstiger Aktivist unternimmt eine letzte Reise ins ostanatolische Dersim

  • Lesedauer: 9 Min.

Von İstanbul nach Elazığ

Kurzinhalt und Autor

Nach Jahrzehnten des Exils kehrt der Politologe und Sozialarbeiter Ahmet Arslan in sein Heimatdorf in die kurdische Provinz Dersim in Ostanatolien zurück, um noch ein Mal seine Mutter zu sehen. In seiner Jugend war er im politischen Widerstand gewesen, war gefoltert und eingesperrt worden. Im Überlandbus nach Osten berührt sich seine Geschichte mit den Geschichten anderer Passagiere.

Einer jungen Frau, die in Istanbul abgetrieben hat, eines Rekruten auf seinem Weg zur »Terrorismusbekämpfung«, einer Geschäftsfrau, einer Neureligiösen mit Drogenvergangenheit und eines deutschen Reiseschriftstellers, der sich das Leben nehmen will. Im Laderaum reist in einem Sarg zwischen Koffern auch eine tote Frau mit, die in ihrem Dorf beerdigt werden soll. Reflexionen, innere Monologe, Rückblicke und Gespräche begleiten diese Busreise im Frühling 2008, als sich das AKP-System noch den Anstrich von Demokratie und postkemalistischem Aufbruch gab. Zurück im Dorf zerbrechen Ahmet Arslans Gewissheiten nicht nur an der Gegenwart, sondern auch an der – verklärten – Vergangenheit. Der lange schwelende Konflikt mit seinem Bruder eskaliert, eine zerstreute Schar verfolgter PKK-Kämpfer und -Kämpferinnen taucht auf, und doch gelingt die beglückende Reise zurück in die Kindheit, ehe sie ein abruptes Ende findet …

 

Richard Schuberth, geboren 1968, ist ein österreichischer Autor von Romanen, Essays und Dramen. Er schreibt Aphorismen, Gedichte, Satiren, Polemiken, wissenschaftlichen Texten und hat ein Musiklexikon herausgegeben. Darüber hinaus betätigt er sich als Cartoonist, Regisseur und mitunter »Komponist« seiner Songmelodien.

Esenler Otogar. Wie hässlich der Busbahnhof war. Esenler Otogar. Doch sogar das gefiel ihm. Hier erst fing Anatolien an. Die zweite Etappe seiner Reise. Ahmet Arslan war noch benommen von der Zeit in İstanbul mit den alten Freunden, von übermütigen Tagen, die ihn mit der neuen Version dieses Landes versöhnt hatten. Zwei seiner ehemaligen Kampfgefährten waren Geschäftsleute geworden, großzügige zumal. Nein, du bist unser Gast. Keine Widerrede. Was, so weit kommen wir noch, dass wir uns von einem dahergelaufenen Alman wie dir einladen lassen. Augenzwinkern, Backenzwicken, gemeinsames Tanzen. Sie hatten sich einen Spaß gemacht, den Zeybek zu tanzen und jenes Machogehabe dabei zu persiflieren, das besonders bei den Emporkömmlingen wieder groß in Mode war. Şerafettin hatte ihnen dann gezeigt, wie wirkliches Tanzen aussieht und unter allgemeinem Beifall Horons von der Schwarzmeerküste getanzt. Man war durch die Klubs gezogen. Ahmet, wie alle aufrichtigen kurdischen Helden schüchtern, hatte geflirtet, was das Zeug hält. Wobei es aber die Frauen waren, die den ersten Schritt taten: diese neue Generation unverschämt selbstbewusster Mittelstandsfrauen, noch nicht in seinem Alter, aber schon reif genug, um nicht nur junges Gemüse zu ernten. Ein sehr eindeutiges Angebot war ihm gemacht worden. Er hatte sich geschmeichelt gefühlt. Und geschämt. Und das alles war in seinem Gesicht zu lesen gewesen. Weil er solch ein Bauer ist. Şerafettins Schwester, sie war frisch geschieden und wollte dies feiern, saugte von seiner Unsicherheit wie von schwerem Nektar. Sie fand ihn süß, und nur die Angst, Jagdobjekt und Trophäe zu sein, hatte ihn bewogen, nicht mit ihr nach Hause zu gehen. Das könne er Laura nicht antun. Sogar sich selbst versuchte er mit seiner Treue zu Laura zu täuschen. Wie kurz dieser Selbstbetrug währte, bewiesen seine abenteuerlichen Pläne für seine Rückkehr nach İstanbul. Zwei Telefonnummern hatte er in seiner Brieftasche, die hütete er wie Eintrittskarten fürs Paradies.

Er reckte und streckte sich, denn eine dreizehnstündige Busreise startet man besser nicht mit Verspannungen. Dann versuchte er sich an das Treiben hier vor 30 Jahren zu erinnern. An kodakfarbene Tage, an all die Landeier wie er, die ihre Angst hinter protzigen Schnurrbärten und bunten, weit geöffneten Fledermauskrägen versteckten. Die Unsicherheit der Bauern war noch immer dieselbe. Dann fiel ihm ein, dass es den Esenler Otogar damals noch gar nicht gegeben haben konnte. Er querte den Platz zur anderen Seite, wo sich in Billigläden und Imbissstuben ein wenig die Türkei seiner Jugend bewahrte. Ein Busunternehmen neben dem anderen war hier aufgefädelt. Die Bäuche der Busse wurden fortwährend geleert und gefüllt. Koffer, riesige Ballen und ganze Hausgerätschaften schob man in die Laderäume. Familienväter instruierten die Packer argwöhnisch. Noch gar nicht alte Frauen mit geschwollenen Füßen schleppten sich am Stock zu den Eingängen und wurden von ihren Kindern am Gesäß in den Bus geschoben. Sonnenstrahlen hatten die graue Wolkendecke perforiert. Der Bussteig füllte sich mit Fahrgästen. Einer der Stationsangestellten schien der ungekrönte König hier zu sein. Er kannte jeden, jeder kannte ihn, ein hagerer Bursche mit eingefallenen Wangen. Mit seinem schnellen Mundwerk kommentierte er alles und jedes, scherzte und versuchte das blasse Mädchen, das wie eine Säule am Randstein stand, mit einem Moonwalk zu beeindrucken. Nach einer Weile gab er es auf. Blass war sie, rote Lider, selbst die Glasaugen der Katze auf ihrem lila Mohairpulli schauten traurig. Sie zündete sich eine Zigarette an, denn zu ihrer Schwermut gesellte sich Unruhe. Jemand beobachtete sie. Sie spürte die Blicke. Dort beim Auslagenfenster der Firma Vangölü Tours stand eine Frau und fixierte sie mit wissendem Lächeln. Das Mädchen blies eine Rauchschwade der Unnahbarkeit in die Luft, dann drehte sie sich schnell nach der Spannerin um, um das Machtspiel zu wenden, doch die war verschwunden. Das Mädchen erschrak, als sie die ebenfalls bleiche, ältere Frau in der Mitte des achteckigen Platzes zwischen den Autos sie weiter anstarren sah.

Seit es günstige Flüge nach Elazığ, Diyarbakır und Kars gab, nahmen nur wenige junge Menschen den Bus in den Osten. Weniger der Flugpreis als Flugangst ließ die Älteren die Straße vorziehen. In der kleinen Wartehalle saßen jene Passagiere, die fürs Telefonieren, Rauchen, Auf-und-ab-Gehen zu müde waren: ältere Leute, anatolische Männer mit karierten Hemden, Tellermützen und Schnurrbärten, nie sicher, ob sie bei der richtigen Kompanie gelandet waren. Bei jedem Geräusch, jeder Durchsage flackerten ihre Augen wie die verfolgter Tiere. Nicht abwarten konnten sie, diesen Großstadtpfuhl der Verwirrungen und Täuschungen zu verlassen und ihren Platz wieder dort einzunehmen, wo sie bessere Figur machten, diese Männer, die nichts anderes erwarteten und gewohnt waren, als von Geschäftsleuten übervorteilt, den staatlichen Autoritäten gedemütigt und ihren Frauen verspottet zu werden. Ihre Frauen wirkten ruhiger, denn sie hatten schon längst sich unter die Schildkrötenpanzer ihrer Beleibtheit verkrochen und starrten leer vor sich hin. Das war auch vernünftig, denn sie hatten eingesehen, dass auch ihre letzten Jahre nicht mehr versprachen als die übliche Schufterei. So ein Leben bietet kein anderes Vergnügen, als am Selbstwertgefühl der Männer zu sägen.

Ein junges Pärchen versprach Hoffnung, denn ihre schlafenden Köpfe waren aneinandergelehnt - von solch einer Symmetrie konnten die Älteren nur träumen, und einige von ihnen fanden sie mit Bestimmtheit obszön. Noch eine Figur in diesem Ensemble stach hervor, ein aufrecht sitzender Mann mit blondgrauen Haaren. Seine Hände lagen auf den Knien und starr war sein Blick. Dabei hätte er seine Unnahbarkeit nicht nötig gehabt, denn niemand wunderte sich über diesen Europäer, der einen Bus nach Bingöl nimmt. Kurze Blicke der Neugier vielleicht, kurze Versuche, sich diese Erscheinung zu erklären. Ein Russe gar? Oder ein Ukrainer? - Und man verfiel wieder in die Lethargie des Wartens. Der leblose Ausdruck seines Gesichtes mochte vielleicht das Vorurteil mancher hier bestätigen, dass diese Europäer reservierte Leute seien. Das ist bestimmt ein Alman, ein Deutscher. Alfred Horn war zufällig wirklich Deutscher.

Und die nächste auffällige Erscheinung lenkte die Blicke auf sich. Eine großgewachsene Frau in Trenchcoat durchmaß selbstbewusst den Raum, ging auf den Schalter zu und wartete mit ihrem Anliegen gar nicht, bis der Beamte den Kopf hob. Ob es noch Tickets für zwei nebeneinanderliegende Sitze gebe, herrschte sie ihn an. Ihr langes brünettes Haar war in der Mitte gescheitelt, und ihr Gesicht, das zu einem Teil hinter einer riesigen Retrosonnenbrille verschwand, versprach, anmutig zu sein. Müden Blickes fragte sie der Beamte, ob sie alleine reise. Was das zur Sache tue, antwortete sie ungeduldig. Weil der Bus fast voll sei und jeder Sitz genutzt werden müsse. Hören Sie zu, mein Herr, ich brauche Platz und bin bereit, dafür auch den vierfachen Preis zu zahlen. Der Beamte schnalzte mit der Zunge. Dies sei für diesen Tag der letzte Bus nach Bingöl, sagte er. Wenn sich keine neuen Passagiere einfänden, dann könne sie sich nach Belieben ausstrecken. Aber er werde allfällig auftauchende Reisende nicht ihr zuliebe auf den nächsten Tag vertrösten. - Das sehen Sie doch ein, gnädige Frau.

In diesem Augenblick trugen vier Männer einen groben quaderförmigen Sarg durch den Warteraum. Er war mit einem grünen Seidentuch bedeckt, auf dem in arabischer Schrift eine Sure gestickt war. Die elegante Frau blickte den Schalterbeamten entsetzt an. Dieser lächelte.

Nein!

Doch.

Wie weit?

Bis Karakoçan.

Die Frau kaufte das Ticket und lief den Trägern auf den Steig nach. Dort war der Busliniendiener schon dabei, Koffer umzuschichten, um den Sarg noch irgendwie zu verstauen. Sie hatte es befürchtet. Der Sarg landete auf ihrem fliederfarbenen Koffer. Die elegante Frau musste ihn einige Male ansprechen, bis er sich ihr zuwandte. Ich gebe ihnen 30 Lira, wenn sie meinen Koffer so weit wie möglich von der Leiche verstauen.

Das ist unmöglich, Angelina, ich müsste alle Koffer und das andere Zeug wieder ausräumen.

Ich heiße weder Angelina noch sehe ich ihr ähnlich. Mein Koffer ist jedenfalls kein Schwamm für Leichensäfte.

Der Diener musste über diese Bemerkung lachen.

Aber, aber, der Abi ist gut gekühlt und geräuchert wie ein Hering. Ich hab Erfahrung. Da stinken die Socken im Bus mehr, wenn die Bauern ihre Schuhe ausziehen.

Ach erinnern Sie mich bloß nicht daran.

Zwischen der Dame und dem Arbeiter flackerte ein kurzer Moment scherzhafter Vertraulichkeit auf. Da Männer wie er eine solche gerne als Einladung auffassen, nahm ihre Stimme wieder den Ton herrischer Strenge an.

Also, was ist? Kommen wir ins Geschäft?

Der Diener nahm die 30 Lira, ging zum Fahrer und plauderte kurz mit ihm. Der hielt die Hand auf, der Diener ließ ein Drittel der eingerollten Scheine in seiner Hand verschwinden. Er ging zum Laderaum, betrachtete das perfekt verstaute Werk und überlegte, wie er das Mikadospiel angehen sollte. Schließlich presste er seine linke Schulter gegen den Sarg und versuchte den lila Koffer mit kleinen Rucken rauszuziehen. Als er merkte, dass der Sarg keine Anstalten machte, sich aus seiner Verstauung zu lösen, riss er den Koffer mit Schwung heraus, zwinkerte dessen Besitzerin zu und trug ihn in den Bus, wo er Platz unter den Füßen des Beifahrers fand. Der Motor begann zu brummen und zu keuchen, die letzten Passagiere stiegen ein. Der Packer näherte sich der Frau mit der Sonnenbrille grinsend, um sich sein Dankeschön abzuholen. Doch das war ihm nicht genug.

Eigentlich hätte ich ein Küsschen verdient.

Deinen Arsch kannst du küssen!

Der Packer war keineswegs beleidigt. Dass diese Dame aus Taksim oder irgendeiner anderen noblen Gegend seinen Jargon beherrschte, nötigte ihm Respekt ab. Traumfrau, keine Frage. Aber ewig träumen macht auch keinen Spaß.

Ahmet Arslan war zurückgekehrt, er hatte sich noch einmal den Bauch vollgeschlagen und würde gut schlafen im Bus. Früher, als alle noch mit dem Bus fuhren, da bedeutete solch eine Reise etwas. Die Abschiede waren Feste. Zigeuner spielten Klarinette oder Zurna und schlugen die Davul, eine Ziege wurde geschlachtet, und die Busse besprengte man mit ihrem Blut.

Richard Schuberth:
Bus nach Bingöl
Drava-Verlag
280 S., geb., 21,00 €

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