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Einfach Mensch sein

Marina Weisband über Juden in Deutschland

  • Marina Weisband
  • Lesedauer: 4 Min.

In der Ukraine hieß ich Onufriyenko. Meine Familie hat damals mit Absicht den jüdischen Namen Weisband nicht tragen wollen, wegen der Nachteile, die er bedeutete. Mein Opa, der den Holocaust überlebt hat, las sein ganzes Leben lang sehr genau alle Zeitungen, verfolgte angespannt die Stimmung im Land. 1993 sagte er: »Wir müssen gehen. Jetzt.« Ich hatte Angst vor einem unbekannten Land. Mein Vater nahm mich in den Arm und tröstete mich. Er sagte: »Keine Sorge. In Deutschland interessiert es niemanden, dass wir Juden sind. In Deutschland können wir einfach nur Menschen sein.«

Wir zogen nach Deutschland. Wir nahmen den Namen Weisband wieder an. Heute gehe ich zum Gebet durch Sicherheitskontrollen. Ich lese aufmerksam die Zeitung und beobachte die Stimmung im Land. Und ich lerne, dass der Traum vom »einfach nur Mensch sein« Arbeit bedeutet. (...)

Ich erinnere mich noch daran, wie unsere Gruppe junger Menschen in unserer Gemeinde versucht hat, einen jüdischen Stammtisch zu gründen, der bewusst nicht in der Gemeinde stattfinden sollte. Wir wollten vor allem die jüdischen Student*innen dort hin einladen, die mit Religion vielleicht nicht viel anfangen konnten. Als wir aber im Lokalblatt eine Anzeige dafür schalten wollten, riet uns die Polizei nachdrücklich davon ab, etwas zu veröffentlichen, das Zeit und Ort enthielt. Aus Sicherheitsgründen. Deshalb sind wir unsichtbar. Auch in diesem Land ist es für uns noch immer zu gefährlich, sichtbar zu sein. Wir verschicken unsere Gemeindepost in unmarkierten Briefumschlägen. Wir laufen zum Gebet, ins Gemeindezentrum, in die jüdische Schule und den Kindergarten an bewaffneten Wächtern vorbei. Und wir sind dankbar für den Schutz - aber das macht etwas mit einem. Und wenn eine Alltäglichkeit wie ein jüdischer Stammtisch mit Bier und Witzen nur halb so viel Öffentlichkeit bekommen würde wie jede antisemitische Aussage, die von dahergelaufenen Provokateuren zwecks Medienzirkus in die Welt gespien wird, dann wäre unsere Situation eine andere!

Jüdin in Deutschland zu sein bedeutet, durch seine bloße Existenz die Erinnerungen der Shoa und des modernen Antisemitismus, von Schuld und Versöhnung in sich zu tragen. Ich wollte nie eine Expertin in Antisemitismus sein. Ich bin Beteiligungspädagogin! Mein Thema ist Bildung! Trotzdem halte ich bei der Polizei Vorträge zu Antisemitismus, trotzdem drehe ich Aufklärungsvideos, trotzdem werde ich angerufen, wenn irgendwo was passiert.

Dass jüdisches Leben hierzulande im Schatten der Shoa steht, bedeutet nicht nur, dass wir mit dem Gedenken leben, was unseren Familien widerfahren ist und mit dem Trauma, das über die Generationen bis zu uns vererbt wurde. Unsere Großeltern waren traumatisiert oder wurden ermordet.Unsere Eltern waren traumatisiert. Unsere Kinder sehen und lernen mit Schrecken. Umso schmerzhafter ist für mich diese Debatte über einen vermeintlichen Schlussstrich, solange wir keinen ziehen können.

Es bedeutet vor allem zu verstehen, dass es geschehen ist und folglich wieder geschehen kann. Es bedeutet zu verstehen, dass Antisemitismus nicht da beginnt, wo auf eine Synagoge geschossen wird. Dass die Shoa nicht mit Gaskammern begann. Es beginnt mit Verschwörungserzählungen. Es beginnt mit Tiraden über eine angebliche jüdische Opferrolle. Nur um es mal klar zu sagen: Wir können den Anfängen nicht wehren, weil es ein stetiger Prozess ist. Weil jetzt gerade Waffen gesammelt werden. Weil jetzt gerade rechte Strukturen in der Polizei und beim Militär nicht konsequent aufgedeckt werden. Weil Menschen wie ich jetzt und heute Morddrohungen bekommen.

Ich höre sehr oft, dass wir die Einteilung in Schubladen lassen sollen - schwarz und weiß, jüdisch oder nichtjüdisch, homo oder hetero. Dass wir einfach nur Menschen sein sollen. Und das ist eine wirklich schöne Vision. Ich will dahin. Aber »einfach nur Mensch sein« ist ein Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt.

»Einfach nur Mensch sein« bedeutet, dass jüdisches Leben unsichtbar gemacht wird. »Einfach nur Mensch sein« bedeutet, dass Strukturen von Unterdrückung unsichtbar gemacht werden. Denn jede Unterdrückung - sei es Sexismus, Rassismus, Antisemitismus - lebt davon, dass sie für die Nichtbetroffenen unsichtbar ist.Wenn wir wirklich das Ziel haben, dass es egal sein soll, wie man geboren wurde - dann müssen wir den Finger in diese Wunden legen und wir müssen benennen, wer allein aufgrund seiner Geburt um einen Platz in der Welt kämpfen muss und wer nicht.

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