Überflieger gibt’s nicht mehr

Deutschlands Biathleten haben sich nur vorsichtige WM-Ziele gesetzt. Medaillen hätten sie trotzdem gern

Wenn ein Biathlet verbal mal die große Keule auspackt, dann ist das meist Erik Lesser. Es gehört schon fast zum Markenkern des Thüringers, den Finger in die eigenen Wunden zu legen: Sei es bei der eigenen Leistung oder der jahrelang dürftigen Antidoping-Arbeit der früheren Weltverbandsspitze. Eine Woche vor den an diesem Mittwoch in Pokljuka startenden Weltmeisterschaften kritisierte Lesser - verpackt in einem Lob an Norwegens Biathlonabteilung - sogar mal die eigene Trainertruppe: »Die Norweger machen alles besser als wir. Das muss man so hart sagen. Die trainieren in der Qualität besser als wir. Die haben mehr Talent, das sieht man an Johannes Thingnes Bö. Sie sind mannschaftlich auch immer geschlossen. Und wenn du die ersten vier Plätze im Gesamtweltcup belegst, hast du ziemlich viel ziemlich richtig gemacht.«

Man stelle sich so eine erfrischende Ehrlichkeit mal von einem hiesigen Fußballer vor. Doch so etwas würde im Deutschen Fußball-Bund als illoyal gegeißelt, zumal wenn sie öffentlich geäußert wird. Im Skiverband wird Lesser aber hoch geschätzt. Der DSV veröffentlichte diese Worte aus einem internen Interview sogar selbst. Und Biathlon-Bundestrainer Mark Kirchner reagierte keineswegs beleidigt, wie es Joachim Löw so gerne tut. Kirchner ist seit Jahren Heimtrainer von Lesser, und ihre Beziehung ist auf andauernder, ehrlicher und schonungsloser Analyse aufgebaut. Vor einem Jahr musste der damals formschwache Lesser sogar im zweitklassigen IBU-Cup antreten, um Kirchner seine WM-Tauglichkeit zu beweisen. Der Weltmeister von 2015 schaffte gerade noch rechtzeitig ein Comeback und errang danach zwei WM-Medaillen. In diesem Winter lief es für Lesser viel besser, sein WM-Ticket löste er mit einem Podestplatz gleich im ersten Rennen. Da darf er sich die Lagerkritik erlauben. »Erik ist realistisch. Er kann seine Leistungen und die anderer sehr gut einschätzen«, sagt Kirchner über ihn.

Zeitplan der WM

Mittwoch, 10. Februar Mixed-Staffel

Freitag, 12. Februar Männer, Sprint

Sonnabend, 13. Februar Frauen, Sprint

Sonntag, 14. Februar Männer, Frauen, Verfolgung

Dienstag, 16. Februar Frauen, Einzel

Mittwoch, 17. Februar Männer, Einzel

Donnerstag, 18. Februar Single-Mixed-Staffel

Sonnabend, 20. Februar Frauen, Männer, Staffel

Sonntag, 21. Februar Frauen, Männer, Massenstart

Realismus ist ein Charakterzug, der sich unter deutschen Athleten wie Trainern immer mehr durchsetzt. Die Zeiten, in denen drei deutsche Biathletinnen ein komplettes Podium besetzten sind längst vorbei. Überfliegerinnen wie Magdalena Neuner oder Laura Dahlmeier gibt’s nicht mehr. Doch das liegt nicht unbedingt daran, dass im DSV schlechter gearbeitet wird als früher. Vielmehr haben die anderen Nationen aufgeholt. Plötzlich sind es nicht mehr drei Nationen, die mehrere Siegläufer stellen, sondern mindestens doppelt so viele. »Es ist wesentlich schwerer geworden als früher. Mit ein paar Rennen in diesem Winter wäre ich vor ein paar Jahren noch unter die besten Sechs gekommen, jetzt aber nicht mal mehr die unter die Top Ten. Für vordere Platzierungen muss einfach alles zusammenpassen«, sagt Benedikt Doll, der neben Lesser und Arnd Peiffer sowie Denise Herrmann und Franziska Preuß bei den Frauen zu den deutschen Hoffnungsträgern in Pokljuka zählt.

Die Mixed-Staffel, bei der zum WM-Start Lesser, Peiffer, Hermann und Preuss fürs deutsche Team laufen sollen, wird gleich zur ersten Bewährungsprobe. Hat der letzte Formaufbau im Trainingslager zeitlich genau gepasst? Sind die kleinen Fehler, die sich in die Abläufe beim Schießen eingeschlichen haben, wieder behoben? Fragen, die selbst nach den Rennen nicht mehr so einfach beantwortet werden können wie noch vor einem Jahrzehnt, wenn Titel gewonnen wurden oder eben nicht. »Natürlich will auch ich mit einer Medaille nach Hause fahren. Aber vor allem will ich gute Rennen machen«, betont Olympiasieger Arnd Peiffer vor seinen elften Welttitelkämpfen. Letztes Jahr sei ihm das im Sprint und der Verfolgung optimal gelungen, »doch dann wurde ich damit Siebter und Fünfter. An meiner Laufform hatten im Vergleich zu den Besten einfach ein paar Sekunden gefehlt. Trotzdem war ich mit mir im Reinen, auch wenn das bei einer WM am Ende keinen interessiert.«

Ähnlich realistisch formuliert auch Denise Herrmann. Dabei hatte sie zu Beginn des Winters noch mit dem Gewinn des Gesamtweltcups geliebäugelt. »Der Saisoneinstieg mit Platz zwei war auch richtig gut. Ich hatte ein großes Ziel, und dachte, dass alles nach Plan funktioniert. Aber dann sind mir ein paar Fehler zu viel passiert«, hat sich die Oberwiesenthalerin längst vom ersten Ziel verabschiedet. Nun liegt der Fokus doch wieder allein auf dieser WM. »Gerade am Schießstand war ich nicht zufrieden. Ich habe die Waffe dann mal für eine Woche weggestellt. Wenn man ständig was probiert, stagniert man nur. Ich habe lieber die Festplatte neu formatiert und den Schießprozess neu aufgebaut. Das System sollte jetzt passen«, so Herrmann, von der Bundestrainer Kirchner ander als bei allen anderen offensiv erklärt: »Von Denise ist viel zu erwarten.«

Herrmanns Vorteil, den sonst niemand im deutschen Team besitzt: Wenn ihre Laufform stimmt, gehört sie zu den Allerschnellsten und ist bei gutem Schießen nicht von Fehlern der Konkurrenz abhängig. »Klar ist der Wunsch nach Medaillen da, aber ich will meine beste Saisonleistung zeigen. Wenn mir das gelingt, kommt alles andere automatisch«, sagt sie, während andere lieber auf die große internationale Konkurrenz verweisen. »Alles muss stimmen«, hört man von vielen deutschen Biathleten. Und dabei schwingt auch immer mit, dass manch schnellerer Gegner ein paar Strafrunden drehen sollte.

Nur Erik Lesser hält sich nicht mit Hoffnungen auf. Wenn er zum Beispiel auf die Siegchancen der deutschen Männerstaffel am zweiten WM-Wochenende angesprochen wird, sagt er: »Gold wird nicht möglich sein. Die Norweger werden niemanden aufstellen, der eine Strafrunde schießt. Wir versuchen dahinter, eine Hand an die Silbermedaille zu bekommen.«

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