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Zauberwürfelnde Reptiloide in der Fußball-Kneipe
Unser Kolumnist grübelt beim Fußball schauen über Verschwörungstheorien und Hochintelligenz
Golden schimmerte der Herbst über Berlin, das Leben zeigte sich von seiner Mondkalbseite und wies mir den Weg in eine gastronomische Einrichtung mit Fernseher. Fußballgucken in der menschelnden Kleingruppe ist schön. Hinfälliges Glück und profanes Leid im Verbund zu genießen, heilt Wunden schnell und ist die kleine Schwester künftiger Zuversicht.
Berlin, Prenzlauer Berg gegen Mittag. Menschliche Gestalten mit Wodka in der Faust blinzeln dem Tag entgegen, stabile Muttis nebst herzlich jubelnden Kindern beleben den Mauerpark, Touristen auf der Suche nach Naherholung, Obdachlose unter der U-Bahn. Alles wie immer, könnte man meinen, und doch ist es nicht ganz so. Weil König Fußball in all seiner Pracht regiert und selbst die winzigste Menschenseele in Aufruhr zu bringen vermag.
Frank Willmann blickt auf den Fußball zwischen Leipzig, Łódź und Ljubljana.
Die Regionalliga Nordost mit ihrer Vielzahl an ostdeutschen Klubs entflammt die wunden Seelen, der FC Carl Zeiss Jena mischt gegenwärtig oben mit und sorgt für einen Extraschimmer Gold. Möge es kein Katzengold sein; indes ein Blick in die höheren Ligen genügt, um zu erkennen: Das Katzengold ist die wahre Fußballwährung Ostdeutschlands. Aber was ist schon wahr und wirklich, wenn vier Prozent aller Deutschen glauben, wir würden von Reptiloiden, echsenartigen Gestaltwandlern, beherrscht?
Der Samstag führte die blaugelbweißen Herren der ballbearbeitenden Zunft ins schöne Greifswald unweit der Ostsee. Ja, die liebe Ostsee, für die einen ein brauner Pfuhl von menschen(echsen?)gemachter Umweltzerstörung, für die anderen ein Ort der Kontemplation und Einkehr ins Ich. Ostsee oder Schmutzsee, die drei Punkte sollten möglichst nach Jena, das war mir sonnenklar, als ich behänd die letzten Meter zur Kaschemme meines Vertrauens stapfte. Dort wartete bereits ein Minimob vom Allerfeinsten. Wir zählten die letzten Sekunden herunter, der Schiedsrichter pfiff das Spiel an und wohlige Unruhe umspielte unsere Herzen.
Um es halblang zu machen: In der ersten Halbzeit spielten WIR einen schmucken Ball, der weder von Gestaltwandlern noch von Greifswalder Kontrahenten ernsthaft manipuliert wurde. Es blieb sogar Zeit für experimentelle Diskurse: Im Fernseher kündete der offenkundig angezündete Moderator von den Fähigkeiten eines Ostseekickers am Zauberwürfel, der wohl zwei Minuten zur Lösung benötigte. Selbstverständlich befand sich unter uns Jena-Fans ein Mensch, dessen in Jena geborener WJS (WürfelJugendSohn) ganze sechs Sekunden dafür benötigte. Voll angemessener Anerkennung nickten wir ihm zu, der Schiri pfiff zur Halbzeit, es stand 3:2 für Jena.
Vielleicht würden wir bald Weltmeister der Zauberwürfelbewältigung? Ich verscheuchte diese philosophischen Modifikationen unseres Sports, hier und heute galt es, gegen die in der Tabelle anständig tief stehenden Küstenbewohner zu brillieren. Wie so oft im Leben grätschte dem Wunsch nach sportlicher Vollkommenheit die plumpe Wirklichkeit zwischen die Adleraugen. Ein Herr Joseph Charles Richardson II aus den USA – dort glauben 12 Millionen Menschen, Expräsident Obama sei ein Reptiloide – erzielte den Ausgleich.
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