Ein Treffen am Red River of the North

Stefan Wogawa lässt die Karl-May-Romantik wiederauferstehen

  • Lesedauer: 9 Min.

In der Schlucht der Geheimnisse

»Dorthin war außer dem schleichenden Indianer oder einem flüchtigen Trapper noch kein Mensch gekommen und es zog mich förmlich, mich an dem Wagnisse zu versuchen, in jene unwirtlichen, nach der Sage der Rothäute von bösen Geistern belebten Schluchten und Canyons einzudringen.«
(Karl May: Winnetou III)

Stefan Wogawa

Auf der Suche nach dem Grab des großen Häuptlings Otaktay, in dem er historische Artefakte vermutet, fällt der deutschstämmige Professor Joseph Bower in die Hände der Schoschonen. Seine Tochter Joan tut insgeheim das, was ihr von ihrem Vater eingeschärft wurde: sollte jemals mit ihm etwas Außergewöhnliches passieren, müsse unbedingt ein Mann namens Robert informiert werden.

Mit ihrem mexikanischen Diener Pedro und dem bekannten Westmann Old Abe macht sich Joan in die Wildnis des Yellowstone-Gebiets auf, um den Professor zu befreien. Unterwegs stößt der geheimnisvolle Robert zu ihnen und begleitet sie, später kreuzt auch der berühmte Krieger Two Eagles vom Stamm der Nez Perce mehrfach ihren Weg. Schoschonen und Komantschen sowie eine Bande Tramps, Deserteure der US-Kavallerie, bedrohen die kleine Gruppe. Erst beim Patowah Canyon, der »Schlucht der Geheimnisse«, erkennt Robert, dass nicht nur das Leben des Professors in größter Gefahr ist.

Stefan Wogawa, geb. 1967, lebt im thüringischen Blankenhain. Er ist Wissenschaftshistoriker, Soziologe, Journalist und Kommunalpolitiker. Seine Liebe gilt den Natives in Nordamerika, ihre Geschichte und ihre Darstellung in Kunst, Film und Literatur. Beim THK Verlag hat er mehrere Bücher zu den DEFA-Indianerfilmen publiziert. »Das Indianergrab« ist sein erster Roman.

Ein großer Stein löste sich und stürzte krachend in den Abgrund. Die beiden Männer hielten kurz inne. Hatte jemand das Geräusch gehört? Sie erstarrten förmlich im Fels. Einige Momente später, als nichts passiert war, kletterten sie weiter an ihren Seilen in den Canyon hinunter. Als die Sonne gerade aufgegangen war, hatten sie den gefährlichen Abstieg begonnen, kaum dass das Licht dafür ausreichte. Sie bewegten sich vorsichtig, denn jede falsche Bewegung konnte das Ende bedeuten. Die steilen Wände aus scharfkantigem Gestein boten kaum Halt. Doch ihnen eröffnete sich ein grandioser Anblick. Die Farben der schroffen Felsen reichten von Weißgelb bis zu einem tiefen Orange. Schräg gegenüber fand sich sogar ein breites Segment, das im Licht der Morgensonne violett leuchtete. Tief unter ihnen rauschte ein reißender Fluss, der in den Yellowstone mündete, einen größeren Fluss, der wiederum dem ganzen wilden Land hier seinen Namen gegeben hatte. Ein Absturz würde ihnen unweigerlich den Tod bringen. Nach etwa 30 Metern Abstieg hatten sie ihr Ziel fast erreicht, einen Felsvorsprung, der von der Kante aus gar nicht zu sehen gewesen war.

»Ohne dich hätte ich mich hier nie zurecht gefunden«, sagte der Weiße in Richtung seines indianischen Begleiters. Sein Atem kam stoßweise. »Wie heißt der Canyon überhaupt? Du hast den Namen noch nicht erwähnt.«

»Heißt Patowah Canyon. Schlucht der Geheimnisse.«

»Ah, gut! Wie weit ist es noch?«

Der Indianer, der unter ihm kletterte, zeigte mit der rechten Hand auf den Felsvorsprung. »Dort hinunter«, sagte er. »Aufpassen!«, fügte er dann hinzu. Er schien nicht nur die Gefahren beim Abstieg zu meinen, denn er schaute sich immer wieder um. »Weiter aufpassen!«, wiederholte er. Dann sprang er auf den Felsvorsprung. Keuchend von der Anstrengung des Abstiegs kam schließlich auch der Weiße unten an. Er war älter als sein Begleiter und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt spürte er, dass er sich die Hände an den Felsen aufgerissen hatte. Sie standen auf dem Felsvorsprung, der gerade einmal zwölf Quadratmeter groß sein mochte. Hier wuchsen nur drei spindeldürre Kiefern aus den Steinen. An einer von ihnen befestigte der Indianer das Seil. Ganz links, wo das Felsgesims spitz zulaufend an die steile Wand stieß, war eine Spalte zu sehen. »Dorthin«, sagte der Indianer. Seine Hand wies in Richtung der Spalte. Prüfend schaute er nochmals nach oben zur Felskante. Über den Felsen sah er nur den blauen Himmel.

»Da drin ist das Grab von Otaktay?«, fragte der Weiße. Der Indianer nickte. Er trug eine Hose aus dunkelbraunem Hirschleder mit Fransen an den Nähten und eine Weste aus Antilopenfell, dazu einfache Mokassins. Sein Haar hing offen herab. Um den Hals hatte er sich ein gelbes Kavalleriehalstuch geschlungen, wohl, weil er einst ein Army-Scout gewesen war. Wie sein Begleiter verfügte er nur über Revolver und Messer. Die Gewehre wären ihnen bei ihrem Abstieg hinderlich gewesen. Sie hatten sie deshalb oben bei ihren Pferden gelassen. Der Weiße lehnte sich gegen die Wand. Er wischte sich nochmals über die Stirn. Das graue Haar war schweißnass. Seinen Hut hatte er in den Nacken geschoben. Er war in einen Manchesteranzug aus robustem, dunkelgrauen Stoff gekleidet. An den Füßen hatte er halbhohe Reitstiefel. »Lass uns trotzdem einen Moment ausruhen.« Er kramte in der ledernen Tasche, die um seinen Hals hing. »Nein, nicht hier ausruhen!«, sagte der Indianer. »Müssen schnell weg von Felsen.« Er schob den Weißen vor sich her, zu der Spalte hin. »Müssen dort hinein! Schnell! Dort können ausruhen.«

»Na gut.« Vorsichtig ging der Weiße die letzten Schritte zur Spalte. Der Felsvorsprung war hier nur etwas über einen Meter tief. Der Indianer blieb zurück. Langsam tastete sich der Weiße in die Spalte hinein. Dazu musste er den Kopf einziehen. Den Hut hielt er dabei mit einer Hand fest. Er konnte zunächst nichts erkennen. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Mit den Händen stützte er sich beim Vorwärtsgehen zu beiden Seiten des Spaltes ab. Seine Finger glitten über scharfkantiges, unbehauenes Gestein. Die Müdigkeit war schlagartig verflogen. Gleich hatten sie es geschafft. Er würde endlich das Grab von Otaktay sehen! Es musste ihm seine Geheimnisse offenbaren!

Der Spalt wurde jetzt sogar noch schmaler. Der Mann legte seinen linken Arm auf die Ledertasche und presste sich hindurch. Doch nach innen erweiterte sich die Öffnung wieder. Dort musste die Höhle sein! Er glaubte, ganz hinten ein Dämmerlicht zu sehen. »Die Fackeln!«, erinnerte er sich plötzlich. Sie mussten die Fackeln anzünden! Er sah sich nach dem Indianer um. War er ihm gefolgt? Im Gang befand er sich noch nicht. »Pronghorn Hunter!«, rief er ihn leise. Dann noch einmal, diesmal etwas lauter: »Pronghorn Hunter!«

»Jetzt ruhst du dich wohl aus«, murmelte er belustigt. Er drehte sich wieder in Richtung der Höhle um. Sollte er ohne Fackel weitergehen oder auf den Indianer warten? Wo blieb der nur? Plötzlich vernahm er hinter sich ein Geräusch, kaum hörbar. Kam Pronghorn Hunter endlich? Er rief ihn erneut. Da hörte er wieder ein Geräusch, diesmal viel näher. Dann packten ihn starke Arme und rissen ihn zu Boden. Ein Schlag traf seinen Kopf. Er wollte schreien, doch jemand stopfte ihm einen Lederknebel in den Mund. Er versuchte sich loszureißen, wälzte sich auf dem Boden, doch es gelang ihm nicht. Immerhin erkannte er, obwohl von dem Schlag benommen, dass es Indianer waren, mit denen er rang. Seine Gedanken rasten. Alles ist aus! Die Schoschonen hatten sie gefunden! Der Tod war ihnen gewiss!

Zwei Indianer schleiften ihn durch den schmalen Gang. Doch es ging nicht nach außen, sondern immer weiter nach innen. Er versuchte, seinen Kopf zu schützen und nicht gegen die Wand zu schlagen. Der Gang verbreiterte sich nochmals. Er nahm nur aus den Augenwinkeln war, dass in die Wände Nischen eingeschlagen worden waren. Drei, vier, vielleicht mehr. Er versuchte zu erkennen, was in den Nischen stand, und schrak zusammen: dämonenhafte Fratzen grinsten ihn an, mit großen Augen, breiten Nasen und spitzen Reißzähnen. Dann fiel ihm ein, dass er solche Darstellungen schon gesehen hatte, wenn auch nur gezeichnet: es mussten Totemfiguren der Indianer sein.

Als sich eine Höhle öffnete, zerrten ihn die beiden Krieger in eine Ecke. Ein paar Lichter funzelten. Seine Gedanken wurden langsam wieder klarer. Von hier war also der Lichtschein gekommen, den er im Gang gesehen hatte. Brannten die Lichter hier drin immer oder hatte man ihn und Pronghorn Hunter etwa erwartet? Als er sich weiter umblickte, wollte er in höchstem Entsetzen aufschreien, vor dem, was er sah, doch der Knebel erlaubte ihm nur stammelnde Laute. Dann verlor er nach einem erneuten Schlag auf den Kopf, den ihm einer der Indianer mit einem Holzknüppel versetzte, die Besinnung.

Die Handelsstation am Red River

»Es ist doch sonderbar, dass die Rothäute so gern mit uns Versteckens spielen.«

(Gabriel Ferry: Der Waldläufer)

Der Reiter, der sich langsam der einsamen Trading Post näherte, war weder von besonders hoher noch von besonders breiter Gestalt. Er saß auf einem gefleckten Appaloosa-Hengst, der wahrscheinlich aus der berühmten Zucht des Indianerstammes der Nez Perce stammte. Der Mann trug eine Hose aus braunem Segeltuch, wie sie für die Diggers typisch war, die Goldgräber in Kalifornien. Auch seine Jacke bestand aus diesem besonders robusten Stoff, war jedoch mit Indigo dunkelblau gefärbt. Seinen sandfarbenen Hut hatte der Mann tief ins Gesicht gezogen, nur der dunkle Vollbart, der am Kinn schon grau wurde, schaute hervor. An seinem Gürtel hing links ein Revolverhalfter, der Griff der Waffe zeigte nach vorn. Einem Kenner würde das verraten, dass der Mann es gewohnt war, den Revolver schnell aus dem Halfter zu ziehen. An der rechten Gürtelseite steckte ein Messer in einer reich bestickten Hülle. Sie war zweifellos indianischen Ursprungs, ebenso wie die kostbar verzierten Mokassins, die der Mann an den Füßen trug. Hinter seinen Sattel hatte er eine Decke und einen Regenmantel geschnallt. Vom Sattel hing rechts ein Lederfutteral herunter, in dem ein Gewehr mit schlankem Kolben und ein weiteres, grober gebautes, steckten. Auch ein Lasso war am Sattel befestigt.

Er ritt langsam auf die Trading Post zu. Hätte der Clerk, der gerade gähnend vor dem Hauptgebäude stand, ihn länger beobachten können, wäre ihm aufgefallen, dass der Mann die Blockhütten schon einmal in größerer Entfernung umrundet hatte. Dabei war er mehrfach von seinem Pferd gestiegen, um den Boden genau nach Spuren zu untersuchen. Immer wieder hatte er aufmerksam die Umgebung beobachtet und auch in Richtung des nahen Waldes gespäht.

Der Handelsstützpunkt Grand Forks am Red River of the North, mitten im wilden Dakota Territorium, war ein beliebter Treffpunkt. Schon seit Jahrzehnten diente er als wichtiger Handelsplatz mit den Indianern. Die brachten vor allem Felle mit und tauschten sie gegen Metallwerkzeuge und Waffen ein. Schon lange vor dem Kontakt mit weißen Fellhändlern hatten die Indianer verschiedener Stämme an dieser Stelle untereinander ihren Tauschhandel betrieben. Die Gebäude der Trading Post waren allesamt aus mächtigen, ineinandergefügten Baumstämmen errichtet. Das große, einstöckige Hauptgebäude trug eine überdachte Plattform, die auch als Wachturm genutzt werden konnte. In den Nebengebäuden befanden sich die Warenlager und Ställe für die Pferde. Draußen standen ein paar hölzerne Tische und Bänke, an denen im Moment aber niemand saß.

Der einsame Reiter steuerte zuerst einen der Pferdeställe an, wo er seinem Tier den Sattel abnahm, es dann festmachte und fütterte. Das Futteral mit den Gewehren schnallte er vom Sattel ab und nahm es, ebenso wie die Satteltasche, mit sich. Das Hauptgebäude, zu dem er hinüberlief, hatte mehrere Räume. Links neben dem Eingang lag der Verkaufsraum für Waren aller Art. Rechts befand sich der Ausschank mit einer Reihe von grob gezimmerten Tischen und Bänken. Weiter hinten, durch eine Trennwand abgeteilt, waren einige Schlafplätze …

Stefan Wogawa:
Das Indianergrab
THK Verlag
312 Seiten, geb., 19,90 €

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