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Wo Kultur produktiv wird

Der marxistische Ethnologe Maurice Godelier fasst sein Lebenswerk zusammen

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die schöpferischsten Marxisten sind diejenigen, die die marxistischen Übereinkünfte in Frage stellen. Maurice Godelier ist dafür ein glänzendes Beispiel. Der Ethnologe, der von 1966 bis 1988 viele Jahre seines Lebens bei den Baruya, einem Stamm in Papua-Neuguinea, verbracht hat, hat gerade mit dem Bändchen »Communauté, société, culture« (Gemeinschaft, Gesellschaft, Kultur) seine Erkenntnisse gewohnt knapp, klar und humorvoll zusammengefasst. Beiläufig bestreitet er den vulgärmarxistischen Gemeinplatz, dass es die Produktionsweise sein muss, die die Gesellschaft organisiert. Die Baruya und viele andere Ethnien bieten Beispiele von Gemeinschaften, in denen, genau umgekehrt, das Religiös-Kulturelle die Produktion antreibt. Wer meint, hier wollte einer, gewissermaßen über die australische Hintertür, kulturalistischen Idealismus ins Haus lassen, irrt jedoch.

Godelier, Jahrgang 1934, ist Schüler von Claude Lévi-Strauss und Louis Althusser, also eines strukturalistischen Ethnologen und eines kommunistischen Philosophen. Er nimmt von beiden Denkern das Beste, von Lévi-Strauss die Abkehr von der eurozentrischen Verengung und das »Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten«, wie Marx das genannt hat. Von Althusser übernimmt er, allerdings mit eigenen Akzenten, dessen Theorie von Ideologie. Ideologie ist seit Althusser nicht mehr das, was der Herr dem dummen Knecht einbläut, sondern etwas, wovon das Subjekt, auch um überhaupt Subjekt zu werden, »angerufen« wird. Ideologie kommt von oben, aber verwirklicht sich unten. Godelier kann an vielen Beispielen aufzeigen, dass Herrschaft niemals allein durch Repression aufrechterhalten werden kann. Rohe Gewalt erzeugt zu viel Reibung. Im Gegenteil versucht jede Herrschaft, sich selbst als »Vorzug für alle« darzustellen, und erhält oft verblüffend leicht die Zustimmung der Beherrschten, die sich in der Schuld der Herrscher wähnen, welche sie vor Gefahren (ob vor Feinden, vor Hunger oder vor Seuchen) schützen. »Die Zustimmung ist das, was die Beherrschten zur Herrschaft beisteuern.«

Die ahistorische Ausrichtung sowohl des synchronen Lévi-Strauss als auch des szientistischen Althusser lehnt Godelier ab. Ihn interessiert, warum und wie ein Kollektiv in der Geschichte entsteht und untergeht. Die Baruya beispielsweise mussten sich gegen feindliche Stämme zur Wehr setzen. Sie entwickelten deshalb einen eigenen, robusten Initiationsritus: Alle drei Jahre wird ein »Tsimia«-Kultgebäude errichtet, das die Gemeinschaft symbolisch repräsentiert. Im »Tsimia« bestimmt man die neuen Schamaninnen und Jäger, vor allem aber die Krieger. Kultur und mit ihr das Imaginäre ordnen so das Arbeits- und Zusammenleben.

Godelier betont, dass nur diejenigen kulturellen Verhältnisse Bestand haben können, die sich zugleich als Produktionsverhältnisse bewähren. In seinem (auch für das Verständnis des Entstehens und Funktionierens von Klassen) unverzichtbaren Buch »Natur, Arbeit, Gesellschaft« führt er ein uns näher liegendes Beispiel an: In der antiken Athener Stadtgesellschaft durften allein die Alteingesessenen Land besitzen und bestellen. Der Landeigentümer hielt aber nicht nur Sklaven, sondern übernahm auch politische Aufgaben; anders als er besaßen Handwerker und Händler wenige und Sklaven überhaupt keine Rechte. Siegte damit Politik über Produktion? Nein, sagt Godelier, denn Politik ist noch nicht die relativ autonome Institution, als die wir sie heute kennen, vielmehr ist sie mit der Produktion, hier der Landwirtschaft, untrennbar verbunden. Sofort fallen die Widersprüche zwischen Eigentümern und Nicht-Eigentümern, Sklaven und Freien ins Auge. Solche Widersprüche breiten sich aus wie Spaltpilze. »Gesellschaften erscheinen uns immer instabil.« Gerade weil sie geschichtliche, widersprüchliche Gebilde sind, sind sie auch veränderliche.

An den Baruya macht Godelier deutlich, dass Kultur nicht, wie die Folkloristen es sich erträumen, eine von Generation zu Generation weitergegebene Tradition, sondern stets funktionalistisch den Herausforderungen angepasst ist. Die Baruya sahen sich, zu ihrem Pech, 1951 dem ersten Weißen gegenüber. Als sie endlich von der australischen Regierung eingemeindet worden waren, fragte Godelier einen von ihnen, weshalb sie sich nun taufen ließen. Er antwortete: »Um neue Menschen zu werden.« Aber was ist ein neuer Mensch? »Ein neuer Mensch sein, heißt, zwei Dinge zu tun: Jesus nachfolgen und Business machen.«

Maurice Godelier: Communauté, société, culture. Trois clefs pour comprendre les identités en conflits. CNRS 2021, 62 S., br., 6 €

Maurice Godelier: Natur, Arbeit, Geschichte. Zu einer universalgeschichtlichen Theorie der Wirtschaftsformen. Junius 1990, 288 S., br., antiquarisch

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