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Durchschnittsfrau am Jederfrau-Abgrund

Der Roman der Fernsehautorin Cho Nam-joo befeuerte in Südkorea feministische Proteste

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 3 Min.

Warum sollte man einen Roman lesen, der trocken geschrieben und mit Fußnoten bestückt ist und der auch noch die Auflösung der Geschichte ganz an den Anfang stellt? Im Fall von »Kim Jiyoung, geboren 1982« von Cho Nam-joo ist die Antwort einfach: Weil die Studie über den Alltagssexismus in Südkorea fesselt. Weil das Gewöhnliche, die Alltäglichkeit der Figuren und Ereignisse, hinter denen stets ein neuer Abgrund lauert, eine solche Kraft entfaltet, dass man das Buch nicht weglegen will.

Ohne Spannungsbogen wird in fünf Abschnitten der Weg einer Durchschnittskoreanerin bis zur Diagnose »postnatale Depression« beschrieben, hinter der allerdings weit mehr steckt. Das Leben der 30-jährigen Kim Jiyoung ist geprägt vom Sexismus: Ihr Bruder bekommt automatisch das größte Stück Fleisch, sie wird von Lehrern und später von Personalern im Bewerbungsgespräch sexuell belästigt. In ihrem ersten Job in einer Werbeagentur wird sie verheizt, weil selbstverständlich angenommen wird, dass sie mit dem Eintritt ins Mutterdasein aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden wird.

Als das Buch der Fernsehautorin Cho Nam-joo 2016 veröffentlicht wurde, schlug es hart ein. Eine Million Mal wurde es verkauft, zwei Millionen Besucher*innen sahen die Verfilmung innerhalb der ersten zehn Tage. Südkoreanische Politiker*innen berufen sich seither auf die fiktive Jederfrau Jiyoung, wenn sie für Gleichstellung werben. Gestritten wurde und wird über das Buch, viele Männer fühlen sich angegriffen. Dabei ist der geäußerte Vorwurf Cho verbreite Männerhass hanebüchen - stattdessen dokumentiert sie die gesellschaftliche Abwertung von Frauen in Südkorea. In einem Interview sagte die 1978 geborene Autorin, sie wollte darüber schreiben, worüber Frauen nicht sprechen können, weil es als selbstverständlich hingenommen wird: »Über die Verzweiflung, die Erschöpfung und die Angst, die wir aus keinem anderen Grund spüren, als dass wir Frauen sind.« Cho selbst musste als Mutter ihren Job aufgeben.

Im Global Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums liegt Südkorea, immerhin die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt, auf Platz 108. Frauen verdienen dort 32,5 Prozent weniger als Männer. Im Glass Ceiling Report des »Economist«, der die Gleichberechtigung von Frauen in der Arbeitswelt bewertet, belegt Südkorea den letzten Platz unter den OECD-Staaten. Dies alles teilen die Fußnoten mit, die auf diese Weise den persönlichen Werdegang Kims zu einer soziologischen Gesellschaftsanalyse werden lassen. »Kim Jiyoung, geboren 1982« wurde zu einem zentralen Text für Südkoreas feministische Bewegung, die 2018 Zehntausende Frauen auf die Straßen brachte. Sie protestierten unter anderem gegen das weit verbreitete Upskirting, das heimliche Filmen unter den Rock oder auf der Toilette. Auch Kim und ihre Kolleginnen müssen das in ihrer Firma erleben.

Nicht nur in Südkorea, sondern weltweit ist das Buch mittlerweile ein Erfolg. Das liegt daran, dass es eben nicht nur einen Einblick in die zugleich hypermoderne und traditionelle Welt Ostasiens gibt, wo die Erwartung totaler Flexibilität und strenge, patriarchalisch geprägte Moralvorstellungen aufeinanderprallen, sondern weil es auch einen Blick auf die hiesige feministische Emanzipationsbewegung erlaubt: Denn abgesehen von Graden und Schattierungen sind die Probleme hier wie da die gleichen.

Cho Nam-joo: Kim Jiyoung, geboren 1982. A. d. Korean. v. Ki-Hyang Lee. Kiepenheuer & Witsch, 208 S., geb., 18 €.

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