Nicht vergesslich - verlogen und feige

Lothar Steinbach hat sich der Qual unterzogen, Hitlers willige Vollstrecker zu interviewen

Nichts lässt sich am Geschehen verändern, es sei denn unser Umgang mit der Vergangenheit verändert die Sicht auf das Geschehene. Denn ›das, was war‹, interessiert uns nicht darum, weil es war, sondern weil es in gewissem Sinn noch ist, indem es noch wirkt.« Mit diesem Zitat aus der »Historik« von Johann Gustav Droysen leitet Lothar Steinbach sein neues Buch ein, das er dem »Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und Verbrechen« widmet. Den Historiker, in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, ruft er in der Folge noch mehrfach an. »Denn nur Gegenwärtiges können wir menschlicherweise fassen, und nur, was aus dem Vergangenen nicht vergangen ist, lässt uns deutend und verstehend das Bild der Vergangenheiten herstellen«, lautet eine andere Einsicht Droysens, die noch heute historiografisches Forschen und Publizieren prägt und die Steinbach im Kontext der Reflexion seiner mit ehemaligen NS-Tätern geführten Gespräche zitiert.

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Lothar Steinbach: Wissen und Gewissen. Anmerkungen eines Historikers zum Umgang mit deutscher Vergangenheit.
Leipziger Universitätsverlag, 327 S., geb., 22,90 €. •

Ich muss gestehen, mit dem Gebot des »Verstehens« meine Schwierigkeiten zu haben, insbesondere wenn es um die Verbrechen des deutschen Faschismus wie auch Faschismen anderer Couleur geht. Und dass ich, trotz Profession eigentlich dazu angehalten, mit »Hitlers willigen Vollstreckern« - wie der US-amerikanische Soziologe Daniel Jonah Goldhagen die »ganz gewöhnlichen Deutschen« nannte, die nicht nur Mitläufer, sondern auch Mittäter waren - kein Wort wechseln wollte und will. Meine Verpflichtung und Verantwortung sehe ich darin, die Opfer des NS-Terrorregimes und die antifaschistischen Widerstandskämpfer zu Wort kommen zu lassen - solange sie noch unter uns weilen. Deren Zeugenschaft der medialen Flut psychologischer Erklärungsversuche des Handelns von Hitler und dessen Gefolgschaft entgegenzusetzen, scheint mir wichtiger. Womit ich nicht prinzipiell bestreiten will, dass Täterprofile zur Aufklärung von Verbrechen wie zur Achtsamkeit vor den neuen Demagogen, Brandstiftern und Mördern wichtig sind. Zur Immunisierung der heutigen Jugend, zur Vermittlung von Würde, Anstand, Humanität, Zivilcourage sind jedoch jene berufen, die den faschistischen Barbaren die Stirn boten.

Der 1937 in Mannheim geborene, emeritierte Professor für Geschichte und Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg hat etliche Interviews mit ehemals strammen Nazis geführt. Sein 1995 erschienenes Buch »Ein Volk, ein Reich, ein Glaube?« erfuhr entsprechende Aufmerksamkeit. In seiner neuen Publikation reflektiert er nochmals einige Gespräche, diskutiert Möglichkeiten und Grenzen der Oral History. Es geht auch hier vornehmlich um den Werdegang und die Motive der Täter, beispielsweise von SS-Oberführer Erich Ehrlinger, studierter Jurist und als Befehlshaber von Einsatzkommandos an der Ermordung osteuropäischer Juden beteiligt, dessen Prozess Anfang der 60er Jahre wegen angeblich »dauernder Verhandlungsunfähigkeit« eingestellt worden ist und der 2004, ohne noch einmal juristisch belangt worden zu sein, in Karlsruhe starb.

Steinbach anonymisierte seine Interviewpartner und hatte dennoch Scherereien mit den einstigen Schergen der NS-Diktatur. Der Wehrmachtspfarrer Walter S. berichtete ihm, durch die US-Fernsehserie »Holocaust - die Geschichte der Familie Weiss« zum »intensiven Nachdenken« angeregt worden zu sein. Mit einer ehrlichen, kritischen Selbstbefragung schien dies nicht verbunden gewesen zu sein, denn als Steinbachs Buch »Ein Volk, ein Reich, ein Glaube?« bereits im Druck war, versuchte jener, eine einstweilige Verfügung zu erwirken. Der Geistliche, der den Eid auf den »Führer« abgelegt hatte, monierte das Attribut »mitschuldig geworden«, das Steinbach gemäß Wortprotokoll verwendet hatte. Das würde beim Leser einen falschen Eindruck wecken, meinte der Ex-Wehrmachtspfarrer, der auch den Abdruck eines Fotos beanstandete, das ihn bei einem »Gottesdienst bei der Kompanie« im Mai 1944» zeigte - in kämpferischer Pose, mit erhobener Faust, vor einer Hakenkreuzfahne. Steinbach informiert, dass der in Nachkriegsjahren bis ins hohe Alter an «Kameradschaftstreffen» teilnehmende und dort großspurige Ansprachen haltende Theologe nicht sehr gesprächig war, wenn es konkret um Verbrechen der Wehrmacht ging, zu denen er in seinen Predigten die Truppen an der Front mit markigen, rassistischen, nazistischen Sprüchen motiviert hatte. Auch verbale Totschläger jammerten, wenn es um eine vermeintliche Verletzung ihrer Ehre und Rufschädigung ging.

Steinbach registriert, dass viele Ehemalige über ihr Leben im «Dritten Reich» sprechen wollten und dankbar waren, dass der Historiker sie aufsuchte. Doch meistens ging es ihnen nur darum, «auszupacken, was ihnen »die Nazis« angetan hatten, obwohl sie selber welche waren. Da wird beklagt, dass sie von der Entnazifizierung nach 1945 härter betroffen waren als ihre Vorgesetzten. Im gleichen Atemzug brüstet man sich mit Auszeichnungen für »Verdienste« in der eigenen Verbrecherkarriere: »Hab sogar eine Büste gekriegt von Hitler - eine silberne, groß!« So der 75-jährige Heinrich S., Angehöriger einer SS-Totenkopfdivision und Wachmann im KZ Sachsenhausen, gegenüber Steinbach.

Nicht vergesslich oder vertrottelt - verlogen und feige waren und sind sie. Was die bundesdeutsche Justiz über Jahrzehnte nicht wahrzunehmen schien.

Steinbach schreibt: »Von der Schuld gegenüber der Vergangenheit, die die Generation meiner Eltern und jenen für uns alle beschämenden Abschnitt deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts betrifft, kann sich niemand freisprechen, ganz gleich, ob er sich im Rückblick auf Geschehenes im Zwiespalt mit seinem Gewissen ›nur‹ als Mitläufer, Verführter oder ahnungsloser Befehlsausführender fühlt und oder sich fragen muss, warum er immer wieder weggesehen und das Erlebte verdrängt habe, obwohl er dabei war und alles gesehen hat. Historische Aufklärung vergisst jede Form von Schuldiggewordensein nicht.« Und es wäre auch gut so, wenn dem so ist - möchte man hinzufügen.

Zuzustimmen ist dem Autor ebenso in seiner Bemerkung, dass es »keine Bewältigung der Vergangenheit allein durch Gerichtsurteile« gibt. Auch wenn es erfreulich gewesen wäre, wenn es solche in der Bundesrepublik ausreichend gegeben hätte, bevor die biologische Lösung Strafverfolgung und Gerechtigkeit vereitelte. Was Steinbach gleichwohl konstatiert: »Da nützt es kaum, wenn ein 94 Jahre alter ehemaliger SS-Wachmann, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord im Konzentrationslager Stutthof, auf dem Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben wird und bei der ersten Anhörung von Zeugenaussagen durch die Nebenkläger in Tränen ausbricht. Jahrzehnte hat die deutsche Justiz gebraucht, um eklatante Kriegsverbrecher in Strafverfahren zu entlarven und zu verurteilen.« Ich denke, es ist nicht übertrieben, mangelnden juristischen, politischen und pädagogischen Aufklärungswillen als Ursache für latenten Neonazismus, Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus in der Bundesrepublik sowie für rechtsradikale Anschläge und Attentate in jüngster Zeit zu brandmarken.

Gemäß seiner Widmung lässt Steinbach auch NS-Opfer zu Wort kommen, so die aus seiner Geburtsstadt Mannheim stammende Jüdin Ida Jauffron-Frank. Der Historiker, der sich in den Gesprächen mit den Nazis unfreiwillig in die Rolle eines Therapeuten gedrängt fühlte, was er oft als arge Zumutung empfand, fragt sich, ob er bei der 89-jährigen Auschwitz-Überlebenden eine Vergangenheit aufwühlen darf, »die wie ein schwerer, böser Traum ihr Leben bis ans Ende belastet« hat. Aber natürlich! Das erwarten sie von uns - die von deutschen Faschisten Verfolgten, Verhafteten, Gequälten, Geschundenen, Gejagten, Gefolterten, die Widerständigen, die Mutigen, die Retter und Geretteten. All jene, die vielfach viel zu lange nicht befragt worden sind, vergessen von einer geschichtsvergessenen Gesellschaft.

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