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Kein Grund für Applaus

Die Geschichte der Pflege wird kaum erforscht. Wichtige Hinweise finden sich oft nur am Rande - wie das Beispiel einer Fachpublikation zeigt

  • Christoph Schwamm
  • Lesedauer: 5 Min.

Professionelle Pflege gibt es mindestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Und seitdem hat es sich dabei um einen Beruf gehandelt, der schlecht oder überhaupt nicht bezahlt wird sowie Körper und Seele der Pflegenden oft schädigt. Und weil das bekannt war, wurde seitdem eine Anerkennung der Leistung von Pflegenden gefordert. Lange Zeit bestand diese Ehrbezeugung in der Versicherung, die Pflegekräfte würden den Lohn für ihre Mühen im Himmelreich, in Form des sogenannten »Gotteslohns« empfangen.

Alles Vergangenheit? Man denke nur an den April vergangenen Jahres, als viele Menschen, insbesondere Angehörige der Mittelklasse, von zu Hause aus applaudierten - bevor Prämien für Krankenhauspersonal überhaupt ein Thema waren. Dankbarkeit, so müssen es viele Pflegekräfte aufgefasst haben, sei doch des Lohnes genug. Die Berliner Krankenpflegerin Nina Magdalena Böhmer kommentierte: »Euer Klatschen könnt ihr euch sonst wohin stecken, ehrlich gesagt.« Das Pflegepersonal sieht die eigene Aufgabe keinesfalls als »Liebesdienst« und fordert seit mehr als hundert Jahren weder Gotteslohn noch Sympathiebekundungen, sondern schlicht annehmbare Arbeitsbedingungen.

Christoph Schwamm

Christoph Schwamm, geboren 1985, ist freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Patientengeschichte der Psychiatrie, die Geschlechtergeschichte, die Geschichte der Pflege und die Geschichte der ärztlichen Standesorganisationen.

Pflege in der Forschung

Hat aber die neue Qualität der Aufmerksamkeit für die Belange von Pflegenden auch Auswirkungen auf die Zeitgeschichtsforschung? Findet sich eine Sensibilität für dieses Thema auch jenseits der überschaubaren Zirkel der Pflegehistoriker*innen? In der Welt der exzellenzgeförderten Forschungskollegien? Nehmen wir zum Beispiel das Schwerpunktheft »Corona. Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven« des Fachjournals »Geschichte und Gesellschaft«. Die Pandemie sei, so stellen die Herausgeber in einem Vorwort fest, definitiv »ein Fall für die Geschichtsbücher«, ein »historisches Ereignis ersten Ranges«. Das Vorwort dient gewissermaßen der Apologie, warum man sich als Historiker*in, als Expert*in für die Vergangenheit, überhaupt schwerpunktmäßig mit der jüngeren Vergangenheit befasst.

Beste Voraussetzung für einen Blick auf die Pflege, denkt man sich. Denn das Personal in den Krankenhäusern und Altenheimen gilt auch nach dem Beginn der Impfungen als der neuralgische Punkt der Krise schlechthin. Doch unter den 18 Autor*innen des Schwerpunktheftes ist niemand, der sich mit der Geschichte der Pflegekräfte beschäftigt hat. Nicht einmal ein*e Medizinhistoriker*in hat den Weg in das Heft gefunden. Das Thema Pflege wird in einem Drittel der Beiträge lediglich gestreift. Das ist symptomatisch für die Geschichte der Pflege, die immer nur am Rande vorkommt.

Immerhin wird erwähnt, dass es Pflegenden kaum möglich ist, ihre Tätigkeit in den virenfreien virtuellen Raum zu verlegen. Virtualisierung ist nur einem privilegierten Teil der Bevölkerung möglich: »In Zeiten von Corona sieht man im Brennglas, dass in den unteren Schichten vorwiegend am und mit dem Körper gearbeitet wird. Von Virtualisierung und Homeoffice kann bei Krankenschwestern, Pflegern, Kassiererinnen und vielen anderen Berufstätigen keine Rede sein«, schreibt Rudolf Schlögl, Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz.

Sven Reichardt und Heike Drotbohm formulieren die These, dass wir uns in einer Phase befinden, die den neoliberalen Formen der Selbstoptimierung nachfolgt. Auf die Gesellschaft der sich selbst regulierenden Individuen folge ein neuer staatlicher Dirigismus, der sich durch Appelle an das Solidaritätsbewusstsein verwirkliche. Gesellschaftliche Verantwortung werde so »zu einer privilegierten Übernahme des Regierungsgebots von Mittel- und Oberschichten und zum wohlfeilen Beweis moralischer Überlegenheit«. Als eines von vielen Beispielen für die repressive Kehrseite des gegenwärtigen Solidaritätsethos benennen die Autor*innen die Applausrituale für das Krankenhauspersonal.

Starker Staat und Frauenberufe

Für den Berliner Zeithistoriker Paul Nolte liefert die staatliche Reaktion auf das Coronavirus den Beweis, dass die Hochmoderne nie beendet war. Staatliche Maßnahmen wie die »flächendeckenden Ausgangsbeschränkungen« und »der zivile Einsatz des Militärs, die Bewilligung von Kurzarbeiterunterstützungen sowie das Schnüren enormer finanzieller Rettungspakete für die Wirtschaft zeigen, dass die Nationalstaaten ihr gesamtes Arsenal einsetzen«. Wenn Nolte jedoch auch »die rasche Aufstockung der medizinischen und pflegerischen Kapazitäten« als Teil einer beeindruckenden staatlichen Intervention einstuft, nimmt er ein in der Pflegegeschichte altbekanntes Täuschungsmanöver der Politik für bare Münze. Denn man kann so viele Stellen für Fachpfleger*innen schaffen, wie man will - es sind schlicht und ergreifend keine Pflegekräfte da, die diese Stellen besetzen könnten. Und das nicht erst seit Corona.

Sensibler für die Belange der Pflege argumentiert Christoph Conrad. Er weist zurecht darauf hin, dass »die Lage der Pflegeberufe, aber auch der ambulanten und innerfamiliären Pflege seit Jahrzehnten zu den großen Baustellen europäischer Wohlfahrtsstaaten gehört«. Conrad thematisiert auch den überdurchschnittlich hohen Anteil von Frauen in den systemrelevanten Berufen und betont damit die geschlechtsbezogene soziale Ungleichheit. Welche Ausmaße diese Ausbeutung selbst in Ländern mit vergleichsweise gut ausgestatteten Gesundheitssystemen annehmen kann und was dies konkret mit Corona zu tun hat, zeigt Conrad am Beispiel Schwedens. Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheimen wurden von überwiegend migrantischen und prekär beschäftigten Pflegekräften betreut. Diese infizierten sich nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in ihren beengten Unterkünften. In der Folge steckten diese Pflegenden wiederum ihre Klienten in den Heimen an. Es gelang nicht, die erkrankten Heimbewohner*innen in Krankenhäusern unterzubringen, da den Kliniken das Pflegepersonal fehlte.

Auf Kosten der Beschäftigten

In einer noch weitaus verheerenderen Abwärtsspirale sieht Dagmar Herzog die Pflegekräfte in den USA. Die höchsten Todesraten waren bei Menschen in Pflegeeinrichtungen zu verzeichnen. Pflegekräfte sind »oft Angehörige ethnischer Minderheiten (Schwarze, Latinx, Filipino-Amerikaner:innen), schlecht bezahlt, ohne eigene Krankenversicherung und ohne angemessene Schutzausrüstung«. Schnell wurden Forderungen laut, die Eigentümer*innen der zumeist profitorientierten Kliniken und Pflegeeinrichtungen zu verpflichten, die Pflegekräfte zu entschädigen. Solche Bemühungen wurden auf systematisches Betreiben der Republikanischen Partei abgewürgt.

Bleibt man bei dieser exemplarischen Publikation, so zeigt sich, dass man aus pflegehistorischer Sicht relevante Passagen zwar mühsam suchen muss, diese sich aber durchaus als ergiebig erweisen. Doch steht es noch immer an, die Erfahrungen von Pflegekräften der vergangenen Jahrzehnte zu erforschen. Unter ihnen leben viele, die Tuberkulose, Typhus und Ruhr, Diphtherie und Kinderlähmung, HIV und die damit einhergehende Moralpanik erlebt haben. Man darf durchaus davon ausgehen, dass ihre Berichte auch der gegenwärtigen Pandemieerfahrung eine dringend benötigte Tiefenschärfe verleihen könnten.

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