Rausholen heißt die Devise
Der Meeresbiologe Stefan Nehring warnt seit knapp 20 Jahren vor der lebensgefährlichen Munition im Meer
Ein Meeresbiologe und Forschungstaucher liebt die Unterwassernatur und ist neugierig auf sie. Wie erleben Sie die Bilder von Waffen am Meeresgrund, mit denen Sie seit vielen Jahren konfrontiert sind?
Meere sind wunderschön, verborgene Welten mit einer faszinierenden Vielfalt an Leben. Aber auch dunkel und tief, sodass sie jahrzehntelang als billige Müllkippe missbraucht wurden. Alles, was an Land zu gefährlich und zu teuer in der Entsorgung war, wurde in die Meere gekippt. Vielfach liegt der Kriegsschrott direkt vor unseren Stränden. Bei jedem Tauchgang erspäht man neue Gefahren. Daran gewöhnen kann man sich nicht.
Dr. Stefan Nehring hat an der Universität Kiel Meeresbiologie studiert. Er berät und forscht zu aktuellen Umweltthemen. Jahrelang recherchierte er zu Altmunition in Nord- und Ostsee. Mit ihm sprach Hannelore Gilsenbach.
Foto: privat
Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Politik?
Als ich 2003 anfing, mich für versenkte Munition zu interessieren, waren öffentliche Bekenntnisse sehr schmallippig. Ja, bei Bornholm und im Skagerrak seien hunderttausende Tonnen Munition versenkt worden. Man habe aber alles im Griff, zumal vor unseren eigenen Stränden nur rund 10 000 Tonnen Munition lagern würden. Und Giftgas sei nicht dabei. Ich fing an, nach alten Akten zu suchen. Und wurde schnell fündig. Weit über eine Million Tonnen Munition waren in der deutschen Nord- und Ostsee versenkt worden, darunter auch größere Mengen Giftgas. Der Druck auf die Amtsstuben wuchs. Medien, Naturschutzorganisationen und Oppositionsparteien griffen das Thema auf.
Schnell reifte bei den Entscheidungsträgern die Erkenntnis: Eigene Sachkunde ist der Schlüssel, um die Meinungshoheit beim Thema wiederzuerlangen. 2008 wurde zuerst eine behördliche Arbeitsgruppe gegründet. Frühe Versuche, Forschungsprojekte zum Thema zu starten, wurden konsequent abgelehnt. Das hat sich inzwischen deutlich gebessert. Aber unangenehme Tatsachen, wie die vor Kurzem in Akten belegte Giftgasversenkung direkt vor den beliebten Stränden der Lübecker Bucht, werden weiterhin als unglaubwürdig abgetan.Welche Prognose stellen Sie? Was wird aus der deutschen Altmunition?
Der Fall ist meiner Ansicht nach eindeutig - Munition und alle anderen Industrieabfälle bis hin zu deutschem Atommüll haben im Meer nichts zu suchen. Rausholen heißt die Devise, je schneller desto besser. Keine Opfer mehr, keine verseuchten Fische mehr und kein freier Zugriff mehr für jedermann auf tödliche Munition im Flachwasser. Über 1000 Tote und Verletzte gab es bis heute allein in Deutschland durch versenkte Munition. Ob die Behörden den Ernst der Lage erkennen wollen? Wahrscheinlich nicht, auf die lange Bank schieben ist eher ihr Credo. Der gesamte Prozess muss daher durch unabhängige Stimmen weiter kritisch begleitet werden.
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