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Mit Kreide gegen das Patriarchat
Die Initiative Catcalls of Berlin macht auf sexuelle Belästigung aufmerksam.
Triggerwarnung:
Dieser Text enthält Zitate mit teils drastischen Beschimpfungen und brutalen Gewaltandrohungen. Bei Personen, die bereits sexualisierte Gewalt erlebt haben, können sie negative Reaktionen und Erinnerungen auslösen.
Mia greift in das dunkelblaue Stoffsäckchen, das an ihren Hosenbund geknotet ist. Sie holt ein rosafarbenes Kreidestück heraus, geht in die Hocke und beginnt mit Großbuchstaben auf die Straße zu schreiben: Stopstreetharassment. Mias Gesichtsausdruck ist kämpferisch, Passant*innen werfen ihr im Vorbeigehen Blicke zu. Sie schreibt weiter: »Du bist süß aber deine Leggins passen irgendwie nicht.« Dazu schreibt sie »@catcallsofberlin«. Das alles steht nun in pastellfarbener Schrift vor der S-Bahnstation Frankfurter Allee in Berlin-Friedrichshain. Die 17-jährige zückt ihr Smartphone, macht ein Foto, und wird es später auf dem Instagram-Account von Catcalls of Berlin posten. Catcalls, das sind verbale, oft sexualisierte Belästigungen von fremden Personen im öffentlichen Raum. Strafbar ist das in Deutschland bisher nicht, allerdings sind Catcalls kein seltenes Phänomen. Bei einer internationalen Studie gaben rund ein Drittel der in Deutschland befragten Frauen an, schon einmal sexuelle Beleidigungen oder Bemerkungen erfahren zu haben.
Mia möchte mit den Kreidesprüchen auf der Straße ein Zeichen setzten. Das Problem soll endlich gesehen werden. Seit zwei Jahren ist sie Teil von Catcalls of Berlin. Sie wurde durch einen Social Media-Aufruf zur Gründung der Berliner Lokalgruppe auf die Initiative aufmerksam. Die Idee Catcalls öffentlich anzukreiden, kommt ursprünglich aus New York, inzwischen gibt es weltweit Catcall-Instagram-Accounts, mit denen Betroffene per Direktnachricht ihre Erfahrungen mit verbalen Belästigungen teilen können. Die Aktivist*innen schreiben sie dann an dem Ort auf, an dem sie passiert sind. So wie Mia heute in Friedrichshain.
Die Nachrichten von betroffenen Personen hat Mia eine ganze Weile für die Catcalls of Berlin alleine verwaltet. »Die Nachrichten zu lesen, ist schon belastend. Es sind oft unglaublich krasse Geschichten«, sagt sie. »Dann kommt aber oft auch die Nachricht, wie gut es tue, die Vorkommnisse zu teilen und die Sprüche auf der Straße zu sehen. Das empfinde ich als sehr empowernd für unsere politische Arbeit.«
Schon früh politisiert
Manchmal bekomme sie Nachrichten von Personen, die über mehrere Häuserblocks verfolgt oder denen Vergewaltigungen auf offener Straße angedroht wurden. In pastellfarbener Kreideschrift werden die vulgären Beleidigungen für alle sichtbar gemacht: »Ich ficke deine Fotze bis sie blutet«, »Willst du mir einen blasen?« oder »Kann man die Titten auch ausprobieren?«. Auch sie wurde schon gemeinsam mit Freundinnen von Typen auf offener Straße verfolgt. Die Situation hatte sich so sehr zugespitzt, dass sie weggerannt sind. Ihre Peiniger rannten hinterher, riefen Sprüche wie: »Ja geil, rennt für uns«. »Das war so eklig und gruselig, weil man in diesem Moment komplett objektifiziert und sexualisiert wird«, erinnert sich Mia.
Als Kind verbrachte Mia viel Zeit am Set, ihre Mutter ist Schauspielerin und sie durfte mit zu den Dreharbeiten in Nordrhein-Westfalen. »Das war ein sehr schöner Ort, die Menschen waren sehr nett, außerdem fand ich es lustig, dass meine Mutter dort jemand anderes war«, sagt sie. Sie lernte dort ganz unterschiedliche Kinder und Erwachsene kennen. Es habe sich immer ein bisschen wie Urlaub angefühlt und sie habe ganz klare Erinnerungen an die Stimmung am Set. Die restliche Zeit wuchs sie in Berlin auf.
Mit Beginn der Grundschule konnte Mia nicht mehr so einfach zu den Dreharbeiten mitfahren. Außerdem veränderte sich noch etwas: »Als ich in die Schule kam, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass mein Geschlecht eine Rolle spielte«, sagt Mia. Davor habe sie viele Jungs als Freunde gehabt. Plötzlich waren Jungs eklig, Mädchen doof. Man konnte nicht mehr gemeinsam spielen. Das Geschlecht war in vieler Hinsicht dominant. »Ich hatte schon immer ein großes Harmoniebedürfnis, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten fand ich sehr früh richtig doof«, sagt sie.
Während der Zeit, in der viele Geflüchtete nach Deutschland kamen - so etwa ab 2016 - begann Mia, ein politisches Bewusstsein zu entwickelt und Zusammenhänge besser zu verstehen. Da war sie gerade mal 13 Jahre alt. »Ich fand es krass, wie Rassismus wieder salonfähig gemacht wurde.« Sie wollte anfangen, sich politisch zu engagieren und startete bei der Schüler*innen AG »Schule mit Courage«. Die Gruppe konzentrierte sich auf Unterstützung Geflüchteter. Es wurde Deutschunterricht organisiert und Spenden gesammelt. Später kamen Podiumsdiskussionen an der Schule und Engagement für verpflichtenden Politikunterricht ab Klasse sieben hinzu.
Durch Social Media hätten sich viele in ihrer Generation recht früh politisiert, mutmaßt sie. Aber auch die ständige Präsenz verschiedener Krisen bewege die Jugend, sich schon sehr zeitig für politische Themen zu interessieren und daraufhin auch aktiv zu werden. »Fridays for Future hat bestimmt auch viel zum politischen Bewusstsein meiner Generation beigetragen«, ergänzt sie. Die Teilnahme an FFF-Gruppen oder Demos sei niederschwellig und so komme man leichter in politisierte Kreise. Es entstünden mehr Diskussionen unter Gleichaltrigen und zuletzt habe die Corona-Pandemie auch zur Auseinandersetzung mit Missständen beigetragen. Man hätte einfach mal Zeit, über alles nachzudenken, sagt Mia. Auch ihre Eltern sprachen schon von klein auf mit ihr über Problematiken wie den Klimawandel. »Vielleicht hatte ich das als Kind noch nicht direkt alles verstanden, aber ich hatte verstanden, dass man irgendetwas machen muss«, sagt sie.
Heute organisiert sie Demos, ist neben Catcalls of Berlin noch bei einem queerfeministisch-antifaschistischen Bündnis aktiv. Dieses Jahr wird sie Abitur machen und neben pandemiebedingt ständig wechselnden Unterrichtsformen und der Prüfungsvorbereitung verbringt sie einen Großteil ihrer Freizeit bei Online-Plena. »Engagement ist auf jeden Fall sehr viel Arbeit - zeitlich und emotional - aber so eine feste Community mit gleichen Werten zu haben, ist unglaublich bestärkend«, sagt sie. Sie sei oft frustriert, wenn sie morgens die Nachrichten checke. Aber genau das treibt sie auch an. »Ich würde es nicht aushalten, nichts gegen diese Entwicklungen zu tun«, sagt sie mit fester Stimme.
Nach dem Abitur wollte sie ursprünglich reisen. Ob die Corona-Situation das zulässt, wird sich zeigen. »Eine Pause möchte ich trotzdem machen. Wenn ich hier in Berlin bleibe, möchte ich noch mehr Energie in die politische Arbeit stecken.« Sie scheint es gefasst zu nehmen. Kein Genörgel, dass äußere Umstände ihr einen fetten Strich durch die Pläne für eine der spannendsten Zeiten im Leben macht. Wie es nach der Pause nach dem Abschluss weitergeht, weiß sie noch nicht. Ein Jura- oder Filmstudium kommen bisher infrage. In beiden Berufsfeldern könne man sich auch mit politisch-gesellschaftskritischen Themen auseinandersetzen - und das möchte sie später auch im Job.
Für feministische Themen interessiert sie sich schon lange. Schon in der Grundschule war sie von der dualen Geschlechtereinteilung genervt. Bei Catcalls of Berlin wurde sie schließlich mit 15 Jahren aktiv. Am Anfang waren sie zu zweit in der Berliner Lokalgruppe. Mia war hauptsächlich für das Chalken, also mit Kreide Sprüche auf den Boden malen, zuständig.
Die Gruppe wuchs und veränderte sich. Inzwischen sind sie ein Team von elf Leuten. Die meisten sind seit Corona dazugekommen und deshalb kennen sich viele Aktivist*innen untereinander nur online. Mia hat angefangen, administrative Aufgaben zu übernehmen und ist nun vor allem in der internationalen Vernetzung der weltweiten Catcalls-of-Ortsgruppen aktiv. Aktivist*innen aus Nord- und Südamerika, Asien, Afrika und Europa sind gemeinsam am Aufbau der internationalen NGO »Chalk back« beteiligt, um der Catcall-Problematik weltweit mehr Öffentlichkeit zu bereiten und verbale Belästigungen zu denormalisieren.
»Ich hätte auch nie gedacht, dass ich mal mit dabei bin, eine internationale NGO aufzubauen.« Sie lacht und hört sich glücklich an. Die Öffentlichkeit interessiere sich zunehmend für die Arbeit der Aktivist*innen und auch die Akquise für Spendengelder für »Chalk back« laufe recht gut. Mit bunter Kreide in der Hand will Mia ein klares Statement gegen die patriarchale Gesellschaft setzen, und die Entschlossenheit, mit der sie auftritt, verrät, dass sie ihren Weg gehen wird.
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