Das Kühlwasser muss weg

Japans Regierung will ein Problem der Kraftwerksruine Fukushima mit umstrittener Maßnahme loswerden

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit zehn Jahren wächst auf dem Kraftwerksgelände Fukushima Daiichi eine Armee von zylinderförmigen Behältern heran. Zehn Meter sind sie hoch, mehr als 1000 davon bevölkern mittlerweile das Gebiet. Es sind große Abfalleimer für das Wasser, das hier jeden Tag zum Kühlen der drei havarierten Reaktoren des Atomkraftwerks im Nordosten Japans fließt. Und weil es immer mehr Wasser wird, fehlt allmählich der Platz. Daher fragt sich Japans Regierung seit Jahren: Wohin mit dem ganzen Wasser? Am Dienstag stellte die Regierung ihren Plan vor: Alles geht in den Ozean. Ab 2023 sollen mehr als 1,2 Millionen Tonnen radioaktives Wasser, das man bisher mit viel Aufwand in den Riesenkanistern lagert, in die Natur abgelassen werden.

Diese Maßnahme soll zumindest unter einen Teil der Jahrhundertkatastrophe einen Schlussstrich ziehen. Am 11. März 2011 wurde das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi von einem Tsunami mit an die 20 Meter hohen Wellen überschwemmt. In drei der sechs Reaktorblöcke kam es zu Kernschmelzen, in den Wochen danach mussten Hunderttausende Menschen aus der Umgebung evakuiert werden. Bis heute sind offiziellen Zahlen zufolge gut 40 000 Menschen nicht zurückgekehrt, nach inoffiziellen Zählungen sind es deutlich mehr. Und damit nicht noch mehr Radioaktivität aus der Kraftwerksruine austritt, müssen die geschmolzenen Kerne permanent gekühlt werden.

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So haben die Unmengen an eingesetztem Kühlwasser bisher Schlimmeres verhindert. Zugleich wird dessen kontinuierliche Vermehrung selbst zum wachsenden Problem. Die Region Fukushima, flächenmäßig in etwa so groß wie Schleswig-Holstein, leidet seit einem Jahrzehnt auch unter erheblichen Reputationsschäden. In Japan ist laut Umfragen eine beträchtliche Minderheit der Menschen skeptisch geworden gegenüber Produkten aus Fukushima.

Vor allem im Ausland führte die Atomkatastrophe zu starken Reaktionen. Diverse Staaten rund um die Welt verhängten Importstopps gegen Nahrungs- und Genussmittelgüter aus Fukushima. Während die EU und die USA mittlerweile wieder Waren aus der Region einführen, bleibt der Zugang zu den Märkten der handelspolitisch wichtigen Nachbarländer China und Südkorea verschlossen. Auch Beteuerungen der japanischen Seite, alle Produkte würden stichprobenartig Sicherheitskontrollen unterzogen, konnten die Lage bisher nicht ändern.

Der Beschluss, verbrauchtes Kühlwasser nun an der Küste von Fukushima in den Ozean zu lassen, wird bei diesem Problem gewiss nicht helfen. Auch deshalb hat die wichtige Fischereiindustrie jahrelang gegen diese schon lange diskutierte Option protestiert. Hiroshi Kishi, Vorsitzender des Fischereiverbands, warnte jetzt einmal mehr vor neuerlichen Reputationsschäden: »Ich würde von der Regierung gerne hören, wie sie damit umgehen will.« Diese hatte übrigens als Alternative überlegt, das Wasser verdampfen zu lassen. Auch gegen diese Option hatten sich die Fischer und andere Branchen in Fukushima gestellt.

Widerspruch kommt nicht nur aus der lokalen und nicht selten exportorientierten Industrie, sondern auch aus der Nachbarschaft. Südkorea und China kritisieren den Plan scharf. Japans Regierung beruft sich dagegen auf die in Wien ansässige UN-Atomenergiebehörde IAEA, die keine großen Gefahren sieht. Schließlich werde das Wasser zuerst gefiltert, sodass die meisten radioaktiven Substanzen nicht mehr in nachweisbaren Mengen im Wasser enthalten seien, sobald es in den Ozean gelassen wird. Nur das »relativ harmlose« Tritium verbleibe im Abwasser.

Die Kritiker beruhigt das nicht. Der Kraftwerksbetreiber Tepco, der im Zuge der Atomkatastrophe immer wieder mit Fehlinformationen auffiel, hat auch hier schon für Negativschlagzeilen gesorgt. 2018 stellte sich heraus, dass die in Fukushima Daiichi angewandte Technologie zur Abwasserreinigung nicht so wirksam war wie versprochen. Stattdessen konnten weiterhin Radionuklide nachgewiesen werden.

Alex Rosen vom atomkraftkritischen Ärzteverband IPNNW in Deutschland kritisierte schon im vergangenen Jahr: »All diese Stoffe könnten sich bei einer Freisetzung ins Meer in der Tier- und Pflanzenwelt des Meeresbodens wiederfinden, sich in Fischen, Meeresfrüchten und Algen anreichern und über die Nahrungsketten des Ozeans bald auch ihren Weg auf die Teller von Konsumenten finden.«

Mit solchen Problemen möchte sich die Regierung in Tokio offenbar nicht weiter befassen. Beim Umgang mit der Kraftwerksruine gibt es noch viele Baustellen. Nun soll es eine weniger werden.

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