»Wer ist Dortmund?«

ZIRKUS Europa

  • Sven Goldmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Ist schon eine Weile her. Bald 55 Jahre, Borussia Dortmund war damals keine große Nummer in Europa, erst recht nicht in England. Der große Trainer Bill Shankly, von dem der Satz stammt, dass Fußball viel mehr sei als eine Sache zwischen Leben und Tod, Bill Shankley also hat damals gefragt: »Wer ist Dortmund?«

Ob sie so jetzt auch in Manchester reden? Dort spielt die zurzeit teuerste Mannschaft der Welt, der Manchester City Football Club. Er spielt an diesem Mittwoch um den Einzug in das Halbfinale der Champions League. Citys Trainer Pep Guardiola hütet sich davor, eine despektierliche Frage zu Borussia Dortmund zu stellen. Vor einer Woche hat er gesagt: »Dortmund ist eine typische Champions-League-Mannschaft« - und deswegen sei höchste Vorsicht geboten vor dem Rückspiel im Westfalenstadion, nach dem knappen, glücklichen und spät erspielten 2:1-Sieg im Hinspiel.

Bill Shankly wird im Geiste grimmig zugestimmt haben. Sein FC Liverpool war die erste englische Mannschaft, die es in einem Europapokalfinale mit dem BVB zu tun gehabt hatte: am 5. Mai 1966 im Hampden Park zu Glasgow, damals noch im Pokal der Cupsieger. Aber da die Liverpooler gerade englischer Meister geworden waren und die Dortmunder Zweiter in der Bundesliga, war dieses Duell so etwas wie die Champions League in der Fußball-Neuzeit.

1966 war ein deutsch-englisches Fußballjahr, nicht nur wegen der WM mit ihrem berühmten Finale und dem noch berühmteren Wembley-Tor. Schon im Halbfinale mussten sich die Dortmunder mit einem scheinbar übermächtigen Gegner von der Insel duellieren. West Ham United hatte im Jahr zuvor den Cup gewonnen und bot die späteren Weltmeister Bobby Moore, Martin Peters und Geoff Hurst auf. Dortmund siegte 2:1 beim Hinspiel im Upton Park und 3:1 im Rückspiel im Stadion Rote Erde.

Das Finale gegen Liverpool war äußerlich eine eher traurige Angelegenheit. Der damals 150 000 Zuschauer fassende Hampden Park war nicht einmal zu einem Drittel gefüllt, dazu weichte Dauerregen den Rasen auf, was dem Spiel der technisch begabteren Engländer nicht entgegenkam. Und doch war Liverpool drückend überlegen. Mit Kampf und Geschick überstand der BVB die erste Halbzeit ohne Gegentor, ging dann sogar in Führung, durch Siegfried Helds spektakulären Volleyschuss , den auch der Reporter der BBC als »beautiful goal« rühmte.

Liverpool kam etwas glücklich zum Ausgleich. Bei Peter Thompsons Sprint am rechten Flügel hatte der Linienrichter schon die Fahne gehoben. Der Ball war wohl schon im Aus, bevor Roger Hunt ihn ins Tor wuchtete. Dortmunds Torhüter Hans Tilkowski verfolgte den Schiedsrichter danach wütend bis zur Mittellinie - begleitet von allerlei englischen Fans. Es dauerte seine Zeit, bis schottische Polizisten den Platz geräumt hatten.

Dann aber kam die Verlängerung und mit ihr der große Augenblick des Reinhard Libuda, den alle nur Stan nannten und der sich kurz mal von seinem Herzensklub Schalke 04 verabschiedet hatte. Liverpools Torhüter Tommie Lawrence war weit aus seinem Kasten hinausgeeilt und hatte den Ball zur Seitenlinie geschlagen, direkt auf Libudas Fuß. Der hatte nun alle Zeit der Welt, noch ein paar Schritte in den Strafraum zu gehen. Libuda aber war kein Mann für die einfachen Lösungen. Also schlug er den Ball direkt zurück in Richtung Tor, in hohem Bogen über alle Dortmunder und Liverpooler hinweg: Der Ball flog an den Pfosten, prallte an den Rücken des Liverpooler Kapitäns Ron Yeats und von dort ins Tor. Eine Viertelstunde später war Schluss und der BVB die erste deutsche Mannschaft, die auf der europäischen Bühne ganz oben thronte.

Bill Shankly wütete später: »Wir haben gegen eine Mannschaft verloren, die nur bolzen kann.« Pep Guardiola weiß, warum er sich solche Sätze vor dem Rückspiel verkneift.

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