- Berlin
- Werkstätten für Menschen mit Behinderung
»Über unsere Köpfe hinweg entschieden«
Beschäftigte der Werkstätten für Menschen mit Behinderung sehen sich in der Pandemie ungleich behandelt
Plötzlich musste es ganz schnell gehen. »Es galt abzuwägen: Um den Schutz von Menschen zu gewährleisten, sahen wir uns gezwungen, die Orte zu schließen, die denselben Menschen auch Geborgenheit, Struktur und sogar ein Zuhause sind«, erklärt Alexander Fischer (Linke) am Dienstagvormittag. Der Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales rekapituliert im Rahmen der Themenwoche der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Werkstätten für behinderte Menschen die Erfahrungen der Pandemie.
Zu Beginn der Coronakrise vor über einem Jahr wurden quasi von einem Tag auf den anderen auch die Werkstätten der Hauptstadt geschlossen, in denen 10 300 Berliner*innen mit Behinderungen sehr unterschiedliche Angebote wahrnehmen. Für viele der hier Beschäftigten eine Katastrophe, weil Tagesstruktur und Sozialkontakte wegbrechen. Aber auch existenzielle Nöte spielen eine große Rolle: Wenn in den Werkstätten nicht gearbeitet wird, erwirtschaften sie keine Erträge. Die sogenannte Ertragsschwankungsrücklage, die in solchen Fällen greift, kann schnell aufgebraucht sein, erklärt Dirk Gerstle vom Vorstand der LAG. Zumal sie nicht für Fälle wie eine Pandemie geschaffen worden sei. Dennoch habe es in Berlin im Gegensatz zu anderen Bundesländern keine großflächigen Entgeltkürzungen geben müssen.
Vor diesem Hintergrund ist bei vielen die Angst vor einer erneuten Schließung angesichts steigender Infektionszahlen und eines in Aussicht stehenden schärferen Lockdowns groß. Dabei seien im Zuge der Lockerungen seit Mai letzten Jahres Wechselschichten und Hygienekonzepte erarbeitet worden, die den Vorgaben der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie entsprechen, so Bettina Neuhaus, Geschäftsführerin der LAG, zu »nd«. Den veränderten Regeln vertrauen nach ihren Erfahrungen auch viele der Beschäftigten. »Aber die abrupte Schließung ist vielen noch sehr präsent.«
Es sei einschneidend gewesen, erinnert sich Beatrix Babenschneider vom Werkstattrat: »Auf einmal wurde über unsere Köpfe hinweg entschieden: ›Es ist besser, wenn ihr zu Hause bleibt‹. Aber die Fachkräfte durften weiter arbeiten, nur die Menschen mit Behinderungen nicht.« Auch das diesbezügliche Schreiben aus der Senatsverwaltung sei für viele Menschen alles andere als verständlich gewesen, kritisiert die LAG-Mitarbeiterin.
Zur unsicheren Situation im Beschäftigungsbereich kommen für nicht wenige Menschen mit Behinderungen die Kontaktbeschränkungen im Privaten. »Ich leide sehr darunter, dass ich meine Freunde nicht sehen kann«, berichtet eine junge Frau mit Down-Syndrom in einer anderen Veranstaltung am Montagnachmittag. »Ich gehöre selbst zur Risikogruppe, aber auch meine Mutter als Diabetikerin, die über 60 ist und als Lehrerin arbeitet, und mein Freund, der eine Vorerkrankung hat«, erklärt sie weiter. Sie erlebe den Alltag in der Werkstatt und auf dem Arbeitsweg als belastend, weil sie noch immer befürchten muss, sich anzustecken: »Oft sind viele Leute unterwegs, ich mag keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.«
Mit der Angst ist sie nicht allein. Denn vom Impfstopp für das Astra-Zeneca-Vakzin waren in besonderem Maße auch Menschen betroffen, die über die Eingliederungshilfe geimpft werden sollten. Sie müssen sich mit der Beratung von Psycholog*innen, Kriseninterventionsangeboten oder eigenen psychologischen Tricks behelfen.
»Viele warten händeringend auf die Impfung«, sagt Beatrix Babenschneider. Aber die Werkstatt-Beschäftigten sind gezwungen, sich zu gedulden. Denn im Gegensatz zu ihren Facharbeitskolleg*innen ohne Behinderungen dürfen sie sich den Impfstoff nicht aussuchen, sondern erhalten den, der über die mobilen Impfteams des Landes ausgegeben wird. Die junge Frau aus der Werkstatt wundert sich, warum Menschen mit Behinderung nicht wie alle anderen auch in ein Impfzentrum gehen könnten. Das Verfahren vermittele den Eindruck, dass man es hier mit der Inklusion nicht so genau nehme.
»Ich hoffe sehr, dass das, was in der ersten Phase der Pandemie geschehen ist, so nicht noch einmal passiert«, sagt Bettina Neuhaus. Und man sei noch lange nicht zur Normalität zurückgekehrt. Sie hofft, dass Begegnungen wie in der Themenwoche dabei helfen, dass sich Politiker*innen und Menschen mit Behinderungen besser verstehen lernen. Dann, so meint sie, gelänge auch die Abwägung zwischen Fürsorge und Wahrung von Selbstbestimmungsrechten besser.
Man habe lernen müssen, bessere und differenziertere Entscheidungen zu treffen, erklärt Alexander Fischer und wendet sich an die Beschäftigten: »Was ich garantieren kann, ist, dass kommende Entscheidungen mit der LAG zusammen und nicht mehr über Ihre Köpfe hinweg gefällt werden.«
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