»Dort hingehen, wo es wehtut!«

Die Autoren Michael Kröchert und Florian Werner im Gespräch über Raststätten als unbehauste Orte und Autobahnfahrten zwischen Exzess und Meditation

  • Frank Willmann
  • Lesedauer: 11 Min.

Herr Werner, wie kann man sich in eine Raststätte verlieben?

Florian Werner: Man muss es nur richtig dolle wollen. Meine Liebe zur vermeintlich hässlichen Raststätte Garbsen Nord ist eine altmodische, elisabethanische, so wie Shakespeare einst die dunkle Lady der Sonette angehimmelt hat.

Im Interview

Die Schriftsteller Michael Kröchert (oben) und Florian Werner haben unabhängig voneinander 2020 und 2021 zwei Bücher veröffentlicht, in denen sie der deutschen Autobahn und der deutschen Raststätte zu Leibe rücken. »Autobahn: Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum« von Michael Kröchert ist bei Tropen erschienen; »Die Raststätte: Eine Liebeserklärung« von Florian Werner bei Hanser Berlin. Mit beiden sprach Frank Willmann.

Herr Kröchert. Sie waren ein Jahr als einsamer Wolf auf der Autobahn unterwegs, warum?

Michael Kröchert: Als junger Mann bin ich exzessiv getrampt. Die Autobahn bot mir ungeahnte Möglichkeit aus meiner Heimatstadt zu verschwinden. Diesem Freiheitsgefühl wollte ich nachspüren - inmitten einer technisierten, entzauberten Welt. Dann war ich schnell kein einsamer Wolf mehr.

Gibt es noch Tramper auf der Autobahn?

Kröchert: Tramperinnen und Tramper sind selten geworden, aber es gibt sie noch. Und wenn, dann sind das fast immer erfrischende, irgendwie anarchische Begegnungen. So wie mit Tyrner, dem Klimaaktivisten. Mit ihm wollte ich nach Italien trampen und bin im Hambacher Forst gelandet.

Herr Werner, in Ihrem Buch steht, Sie seien Vegetarier und ein linksgrünversifftes Waldorfkindergartenkind. Hat Sie diese Kombination auf die Raststätte gezogen?

Werner: Was mich dorthin gezogen hat, ist meine unbändige Neugier gegenüber allem, was als eklig, tabu oder verpönt gilt. Den Vegetarismus habe ich mit ganzem Herzen nach Garbsen Nord mitgenommen und es keine Sekunde bereut, dass ich dort nicht das Schnitzel mit Pommes essen musste, sondern mich am Salat-Büfett gütlich tun durfte. Meine linksgrünversiffte Grundeinstellung wuchs tatsächlich mit jeder Sekunde. Vor allem meine Abneigung gegenüber dem motorisierten Individualverkehr.

Sind Autobahnen nicht Orte des Schreckens? Tote Tiere am Straßenrand, Irre hinterm Lenkrad, tödliche Abgase?

Werner: Gerade in diesem kompletten Irrsinn sind Raststätten doch paradiesische Idyllen. Orte der geistigen Sammlung und körperlichen Ertüchtigung.

Kröchert: Auf den ersten Blick ja. Aber gerade das macht sie reizvoll. Da fühle ich mich Jack Kerouac oder Jörg Fauser verwandt. Man muss dort hingehen, wo es weh tut! Zu den Widrigkeiten, sozialen Widersprüchen, Hoffnungen und verborgenen Schönheiten.

Welchen Stellenwert hat in Ihren beider Leben das private Auto?

Kröchert: Mein erstes eigenes Auto hatte ich mit vierzig. Aber auf diesem Trip wollte ich mich auch in Autofahrer einfühlen können. Die Hälfte der Strecken bin ich aber getrampt, im Lkw mitgefahren oder war mit dem Rad auf stillgelegten Strecken oder an Autobahnruinen unterwegs.

Werner: Ich besitze seit Jahrzehnten kein Auto mehr. Ich hatte mal mit Mitte 20 einen alten Mitsubishi, den habe ich aber leichten Herzens für eine symbolische Mark an einen Ganoven verkauft, der ihn sofort gewinnbringend weiterverscheuert hat.

Als kleiner Junge schnüffelte ich gern die Abgase unseres Trabants ein. Haben sie ähnliche Erinnerungen?

Kröchert: Ja. Ich bewundere SchriftstellerInnen wie Joan Didion oder Bruce Chatwin und ihre Reportagen. Aus diesem Grund ist jeder Geruch und jedes Geräusch interessant. Manchmal sogar existenziell. Deshalb bin ich auch auf einem Autobahnneubau gewandert, habe öfter im Auto übernachtet oder habe mit der Hamburger Autobahnmeisterei Müll aufgesammelt.

Werner: Ich habe eher Geruchserinnerungen an das Interieur. Dieses intensive Aroma von frischgebackenem Kunststoff. Das ist so einzigartig, dass es inzwischen sogar als Duft-Wunderbaum verkauft wird. Marke »New Car«.

Welche war ihre schönste Begegnung auf der Bundesautobahn?

Kröchert: Viele meiner Begegnungen waren bittersüß. Zum Beispiel mit einer Bäuerin in Bayern, als ich den Neubau der A 94 abgewandert bin. Sie schaute auf die Baustelle und sagte: Unsere Kinder haben es leichter, die wissen nämlich nicht, wie schön es hier mal war, als es noch keine Autobahn gab. Danach hat sie mir etwas gekocht, weil es keinen Gasthof in der Nähe gab.

Werner: Das Treffen mit dem lokalen Flaschensammler. Ein achtzig Jahre alter Mann, der jeden Tag die Raststättencontainer nach Leergut abgrast, um damit seine kärgliche Rente aufzubessern. Er war der einzige Mensch, der mit dem Fahrrad auf die Raststätte gekommen ist, das hat ihn mir sofort sympathisch gemacht.

Forschungen ergaben, viele der Jungmänner, die sich gern mit ihren Automobilen Rennen liefern, wohnen noch bei Mutti. Überrascht sie das?

Werner: Überhaupt nicht. Der Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio hat mal geschrieben: Die Mutter ist das erste Fahrzeug der Gattung. Wir alle werden damit auf die Welt transportiert. Man könnte also sagen, dass Männer, die ihre Sportwagen fetischisieren, eigentlich an einem Ödipuskomplex leiden. Sie wollen weg, sie fahren wie bekloppt durch die Gegend, aber insgeheim wären sie gerne noch im Uterus von Mama.

Kröchert: Das klingt etwas klischeehaft. Oder soll das heißen, dass diese Mütter kollektiv versagt haben? (lacht) Im Ernst: Das hohe Tempo ist gefährlich. Außerdem ökologisch nicht zu vertreten. Den Adrenalin-Kick bei 240 km/h habe ich erlebt, als ich mit der Autobahnpolizei auf der A 5 unterwegs war. Sehnsucht nach Tempo, Grenzüberschreitung und einer verbotenen Nähe zum Tod hat viele Ursachen.

Autobahnen und Raststätten gelten als Ort für käuflichen Sex. Haben Sie aus empirischen Gründen diese These im sogenannten Lovemobil überprüft?

Kröchert: Für mein Buch habe nicht nur Baumbesetzerinnen und Pastorinnen von Autobahnkirchen begleitet, sondern auch mit Prostituierten gesprochen. Einmal war ich nachts an einem Autohof in Nordbayern, da gab es eine Halle mit 150 Spielautomaten, aber keine Spieler. In einem Raum saß an jedem fünften Automaten eine Frau und wartete auf Freier.

Werner: Im Lovemobil war ich nicht. Aber in der Tat ist die Raststätte Garbsen Nord und der benachbarte Parkplatz am Blauen See in einschlägigen Foren als Dogging-Hotspot berühmt. Ich habe mich zu Recherchezwecken Punkt Mitternacht aufgemacht, konnte aber leider keine Beischlafhandlungen beobachten.

Ist die gemeine Raststättenküche zu empfehlen?

Kröchert: Ich habe in meinem gesamten Leben vielleicht drei Mal an einer Raststätte gespeist. Fürs Buch habe ich mir öfter Kaffee und überteuerte Schokolade geholt, wenn ich müde war. Einmal habe ich auf einer Raststätte gearbeitet, ohne mich als Reporter zu outen. Die Pommes waren super, die Bezahlung entsprach dem Mindestlohn. Die Story ist leider nicht im Buch gelandet. Sie kommt ins nächste.

Werner: Eine ehemalige MITROPA-Mitarbeiterin, die in den 80ern am Rasthof Börde bedient hat, hat mir erzählt, dass dort teilweise geradezu auf Sterne-Niveau gekocht wurde. Der Fisch wurde am Tisch filetiert, der Nachtisch vor den Augen der Gäste flambiert. Vergleichbare kulinarische Erfahrungen habe ich leider keine gemacht. Ich habe, wie gesagt, immer nur Salat gegessen. Salat und Schokoriegel. Wenn man sich an diese Diät hält, kommt man, glaube ich, ganz gut durch.

Ist ihnen auf der Autobahn Obdachlosigkeit begegnet?

Werner: Auf dem Rastplatz stand jede Nacht so ein alter Kombi. Irgendwann habe ich gemerkt, da ist ein Pärchen, die wohnen da drin. Schlafen im Kofferraum, trinken morgens einen Kaffee an einem dieser Metalltische, die da zwischen den Parkbuchten stehen, fahren irgendwann kurz weg, stehen abends aber wieder am selben Fleck. Mein Vertrauensmann, der Flaschensammler, hat mir dann erzählt, dass der Mann ein arbeitsloser Bäcker ist. Er bekam eine Mehlallergie, musste seinen Job aufgeben, verlor seine Wohnung, jetzt haust er mit seiner Freundin auf der Raststätte. Von solchen Schicksalen abgesehen, spürt man auf der Raststätte aber allgemein so eine Unbehaustheit. Man merkt, hier sind lauter Menschen, die eigentlich lieber woanders wären. Ich muss immer an dieses Gedicht von Bertolt Brecht denken: »Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / mit Ungeduld?«

Kröchert: Einmal war ich im Ruhrgebiet unterwegs, um in die größten Staus zu fahren. Als ich ausstieg, an der Leitplanke entlanglief, um die Steckengebliebenen zu interviewen, kam ich mir fast wie ein Obdachloser vor. Ein Gefühl der Unbehaustheit entstand oft, eigentlich immer, wenn Millionen Menschen wie manisch hin und her pendeln. Arbeit und Wohnen liegen definitiv zu weit auseinander.

Welche Musik haben Sie nachts auf der Autobahn gehört?

Kröchert: Das habe ich geliebt. Nachts Musik hören und über die Autobahn fahren. Man braucht kaum Konzentration fürs Fahren und gleitet in einen meditativen Zustand. Bach ist genial dafür. Techno geht auch immer auf der Autobahn, ist aber etwa affirmativ. Jazz ist perfekt für den Stau. Hat vielleicht etwas mit dem Blech der Instrumente zu tun, das dem Blech der Autos ähnelt.

Werner: Ich habe gern »Autobahn« von Kraftwerk gehört, der Autobahnsong schlechthin. 23 Minuten voller Schönheit. Nicht von ungefähr nennt man diesen sturen elektronischen Krautrock-Beat »Motorik«. Das ist der Rhythmus eines Viertakters.

Gibt es den typischen Autobahngeruch?

Kröchert: Im Hambacher Forst hat die Autobahn nach Staub und Wald und Widerstand gerochen. In der Kabine des Trucks nach Plastik und Termindruck. Im Wohnzimmer hinter der Lärmschutzwand nach Kaffee und Durchhalteparolen. Als ich einmal bei Tempo 200 überholt wurde, roch es nach Verantwortungslosigkeit und Exzess. Aber es gibt auch den Geruch von seltenen Blumen, die auf dem Mittelstreifen wachsen, weil nur sie das Streusalz und die extreme Trockenheit aushalten, wie mir eine Botanikerin erklärt hat.

Werner: Der Geruch der Raststätte, das ist eine herbe Mischung aus Urin, Heißwurst, Pommes, Kippen und Dieselabgasen. Vor allem im Sommer, wenn die Lkws aus Gründen der Kühlung auch während des Parkens den Motor laufen lassen. Ein Quäntchen Reifenabrieb gehört auch dazu.

»Es war nicht alles schlecht unter Hitler. Er hat die Autobahn erfunden.« Diese dumme Phrase konnte man in den 70er Jahren öfter hören. Gibt es heute noch Menschen, die so etwas denken oder sagen?

Kröchert: Hinter vorgehaltener Hand rutscht es manchem noch raus. Hitler hat aber weder die Autobahn erfunden (sie entstand in Italien), noch hat er durch den Autobahnbau die Arbeitslosen von der Straße geholt. Das war teuflische Propaganda. Man müsste ein Denkmal für die Autobahn-Arbeiter im »Dritten Reich« errichten, weil sie unter so unmenschlichen Bedingungen, viele zwangsweise, gearbeitet haben und es viele Tote unter ihnen gab. Jeder Kilometer neugebauter Autobahn wurde mit Getöse eingeweiht, um abzulenken, dass sie ein weiterer Baustein der Menschenverachtung war.

Werner: Ich hoffe, nicht! Aber klar, mir ist dieser Ausspruch auch geläufig, und das 75 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur. Die Geschichte der deutschen Raststätten ist eng mit dem Autobahnbau unter den Nazis verknüpft. Der NS-Generalinspekteur für das Straßenwesen, Fritz Todt, war auch für den Bau der ersten Rastanlagen verantwortlich. Und er hatte schrecklich hehre Vorstellungen, die Rastanlagen sollten nicht bloß Orte zum Essen und Tanken sein, sondern »Werke der Kultur«, dem Baustil des jeweiligen Gaus angepasst. Der erste Raststättenbau der Nazis, das Rasthaus am Chiemsee, hat deshalb ein Walmdach wie ein bayrischer Bauernhof.

In den 80er Jahren wurden dem Brummifahrer Filme und Lieder gewidmet, er war der König der Straße. Wie haben Sie diese Spezies heute wahrgenommen?

Werner: Ich habe einen sehr freundlichen Trucker aus dem Bergischen Land getroffen, der war Lastwagenfahrer in zweiter Generation. Ist früher immer in den Ferien mit seinem Vater durch ganz Europa gedonnert, jetzt fährt er selbst, hat einen festen Vertrag, ist jedes Wochenende zu Hause. Der hat mir gesagt, das sei für ihn der schönste Job der Welt. Aber das ist die privilegierte Ausnahme. Vor allem die osteuropäischen Fahrer müssen teilweise für Dumpingpreise fahren, fünfzig Euro für die Strecke Moskau-Rotterdam, da geht das los. Und dann sitzen sie abends auf ihren paar Quadratmetern in der Kabine, müssen ihre Ruhezeit absitzen, und es gibt absolut nichts zu tun. Kein Kino, kein Fußballplatz, nicht mal ein Basketballkorb. Ich finde, die Art und Weise, wie wir mit Fernfahrern umgehen, uns auf ihre Dienstleistung verlassen und nichts dafür tun, um ihren Alltag erträglicher zu gestalten, ist komplett unmenschlich. Das ist hart an der Sklavenhaltergesellschaft.

Kröchert: Erst als ich mit Bodo, einem Trucker, unterwegs war, wurde mir klar, wie zwiespältig diese Arbeit ist. Es gibt nicht mehr die Möglichkeit, die Autobahn spontan zu verlassen und an einem See baden zu gehen. Angesicht von GPS und Automatisierung gibt es nur winzige Reste von Freiheit oder Romantik. Zu Feierabend wird mit harten Bandagen um Parkplätze gestritten. Das fördert Ressentiments unter den Truckern. Schließlich verkriechen sich alle in ihre Kabinen. Die Trucker sind aber nicht nur Rädchen im Getriebe. Sie brauchen mehr Lohn, mehr Anerkennung und mehr - schöne - Parkplätze.

Überwog nach der Arbeit an Ihren Büchern der Hass auf Autobahn und Raststätte?

Werner: Trotz solcher Erfahrungen ist etwas passiert, das ich vorher nie für möglich gehalten hatte: Ich habe die Raststätte Garbsen Nord lieben gelernt. Als ich vor wenigen Wochen wieder mal dort war, als die Ausfahrt näherkam und ich die ersten Ankündigungsbaken am Straßenrand sah, fing mein Puls an zu flattern. Da habe ich gemerkt: Es ist Liebe! (lacht)

Kröchert: Ich würde mich wieder in dieses Abenteuer stürzen.

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