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»Aufklärung ist Hoffnung«

Der Psychoanalytiker Joachim Küchenhoff über die Lehren aus der Coronakrise, den schwierigen Umgang mit Unsicherheit und die Suche nach Solidarität

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie sind praktizierender Psychoanalytiker. Musste in den vergangenen Monaten die Couch in Ihrer Praxis des Öfteren leer bleiben?

Mir ist es sehr wichtig gewesen, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Ich arbeite in Basel in der Schweiz und bis auf wenige Monate im vergangenen Frühjahr konnte ich - mit entsprechenden Vorkehrungen - meine Patienten weiter sehen. Mit einigen habe ich über Video und Telefon gearbeitet. Aber die Couch leer zu lassen, um im Bild zu bleiben, das wollte ich nicht. Zudem es viel Bedarf an Therapie gab.

Interview
Joachim Küchenhoff, geboren 1953, ist Psychoanalytiker, Psychiater und Professor. Er hat viele Jahre in leitender Funktion von psychotherapeutischen und psychiatrischen Einrichtungen gearbeitet und lehrt an der Universität Basel sowie der International Psychoanalytic University in Berlin. Er lebt in Basel, wo er eine Praxis für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse betreibt.

Das alltägliche Leben hat sich in der Coronakrise sehr verändert. Was sagt uns das über unsere Gesellschaft?

Ich verwehre mich gegen den Begriff der Krise, das ist ein zu schwacher Begriff. Eine Krise, so könnte man sagen, hat zwei Seiten, etwas Gutes und etwas Schlechtes. Das scheint mir eine Verharmlosung zu sein. Deshalb sage ich Ausnahmezustand, auch weil demokratische Grundrechte stark eingeschränkt worden sind. Man kann dafür gute Gründe finden, aber man sollte doch diese einschneidende und besondere Situation so benennen.

Dieser Ausnahmezustand ist ein Rückspiegel. Das heißt, er spiegelt uns den Alltag nochmals neu und zeigt uns, was schwierig war. Zum Beispiel kamen zu Beginn der Coronapandemie Menschen zu mir in die Therapie, die sich erleichtert fühlten. Das hat mich gewundert, zeigt aber vor allem die enormen Alltagsbelastungen, denen sie zuvor ausgesetzt waren. Die soziale Wirklichkeit von vielen Menschen ist sehr hart. Auf gesellschaftlicher Ebene ist die Verunsicherung sehr stark gewesen - und sie dauert noch an. Das betrifft politische Institutionen und die Wissenschaft, auch da gibt es einen Ordnungs- und Orientierungsverlust.

Auf Unsicherheiten gibt es paradoxe Reaktionen. In der Psychoanalyse kennt man das Konzept des sekundären Gewinns, also das Genießen einer Krise. Konnten Sie so etwas auch beobachten?

Der sekundäre Krankheitsgewinn bezeichnet im psychoanalytischen Sinne eine Situation, in der man unwillkürlich oder unbewusst beginnt, Vorteile zu sehen. Zum Beispiel ein Mensch, der sehr einsam ist, leidet darunter, er nimmt andere als gesellig und sich selbst als gehemmt wahr. Wenn nun alle zu Hause sind, kann sich eine emotionale Entspannung einstellen.

Es gibt einige Formen der Anpassung an diese Situation, die schwierig sind. Sozial, aber auch in der Therapie besonders schwierig ist es beispielsweise dann, wenn Ambiguitäten vereinfacht werden, indem man projiziert. Dann werden Feinbilder aufgebaut. Das kann in einer Situation, die eine enorme Verunsicherung darstellt, durchaus entlastend sein. Diese Entlastung geht aber auf Kosten der Klarsicht, der individuellen, gesellschaftlichen und politischen.

Wie kann man mit Unsicherheit umgehen? Oder mit Angst?

Die Pandemie hat viele Sachen verändert. Das ist beängstigend, denn die Unsicherheit erschüttert das basale Sicherheitsgefühl oder das Urvertrauen. Es gibt viele innere Prozesse und Abwehrmechanismen, um dieses Angstgefühl wieder loszuwerden. Die projektive Verarbeitung oder den Weg, einen Vorteil daraus zu machen, habe ich schon genannt. Es gibt auch verleugnende Tendenzen. Menschen, die die Situation wahrnehmen, aber sagen, es macht mir nichts, ich habe keine emotionale Beziehung dazu, es ist mir gleichgültig. Es hat mich überrascht, dass das auch bei Menschen auftritt, die sehr betroffen sein könnten.

Nun haben alle Abwehrmechanismen ihren Sinn, sie sind auch ein Schutz. Sie können ein wenig die Angst nehmen, aber sie können zu weit gehen oder in eine Sackgasse führen. Die Therapie dient dazu, sich dessen bewusst zu machen und diese Angst ein Stück weit zu realisieren. Man muss sehen, dass sie nicht selbst verursacht worden ist, dass die äußere Situation verunsichernd ist und dass man das in gewissem Maße auch aushalten muss. Es geht darum, einen ausgewogeneren Umgang zu finden.

Ich war in der vergangenen Woche auf einer psychotherapeutischen Fachtagung, bei der mir eine Kollegin entgegengehalten hat, ich würde keinen Mut verbreiten. Ich will tatsächlich niemandem auf die Schulter klopfen und sagen, alles wird gut. Ich kann nur die Dinge adressieren, wo sie hingehören, kann das sortieren und schauen, wo Spielräume sind, die bis dahin nicht gesehen wurden. Ich kann diese globale gesellschaftliche Verunsicherung nicht auflösen. Aber in solcher Aufklärung ist auch Hoffnung.

Gibt es für Sie Lehren aus der Krise?

Das Wichtigste wäre mir, dass es nicht einfach so weitergeht wie vorher. Dass man sich tatsächlich einiges überlegt. Im Oktober 2019 erschien das Buch »The Psychology of Pandemics: Preparing for the Next Global Outbreak of Infectious Disease« (zu Deutsch: »Die Psychologie der Pandemien: Die Vorbereitung auf den nächsten globalen Ausbruch einer Infektionskrankheit«) des Psychologen Stephen Taylor. Taylor sagt, nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Wenige Monate später war es soweit. Das hat auch mit unserem Naturverhältnis zu tun, das Anthropozoonosen wahrscheinlicher macht.

Ich denke, dass man die neoliberalen Wirtschaftstheorien überdenken muss. Wir können nicht alles dem Markt überlassen, das haben die vergangenen Monate deutlich gezeigt. Und im Psychologischen müssen wir über das Verhältnis von Innen- und Außenwelt nachdenken, vor allem über das traumatische Einbrechen der Außenwelt. Auf ganz verschiedenen Ebenen braucht es ein Überdenken, eine Reflexion. Und es wird sich etwas ändern, da bin ich sicher.

Im vergangenen Frühjahr war viel von Solidarität die Rede, inzwischen hat das nachgelassen, der Ton scheint etwas aggressiver zu sein. Wie nehmen Sie das wahr?

Solidarität ist wichtig. Die heftigen Schritte, die gesamtgesellschaftlich gegangen wurden, um die Pandemie einzudämmen, um Alte und Kranke zu schützen, haben für mich eine solidarische Basis. Es hat auch etwas mit Solidarität zu tun, wenn ich in meiner Praxis Patienten gesehen habe, die so verunsichert waren oder schwere Leiden haben, dass ich anwesend sein wollte.

Zu sagen, ich lasse dich nicht im Stich, das ist auch solidarisch. Und das kann auch bedeuten, dass man sich selbst gefährdet, aber darüber muss man sprechen und sich einigen. Die Frage nach einem solidarischen Verhalten muss immer wieder gestellt werden. Das ist durch Verbote, Gebote und Regelwerke nicht einfach auflösbar. Man muss sich stattdessen überlegen, was will ich, und für wen mache ich es.

Wird sich das Verhältnis zum eigenen Körper und dem der anderen verändern?

Auf der Ebene der Zwischenleiblichkeit, ein Ausdruck des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty, hat sich viel verändert - allein die Verkehrung von Nähe und Distanz, was ist gut und was schlecht. Vielen Patienten in meiner Praxis ist es schwer gefallen, nicht per Handschlag begrüßt zu werden. Ich kann mir vorstellen, dass wir künftig einen zurückhaltenderen Umgang miteinander pflegen.

Dass Gesten wie das Küsschengeben zur Begrüßung wiederkehren, ist hingegen nur schwer vorstellbar, wir werden das Risiko nun immer mitdenken. Im sozialen Umgang wird die Pandemie Narben hinterlassen. Und auch im Selbstbezug werden wir zu einem hypochondrischen Verhalten gedrillt. Wenn man Husten oder Fieber hat, muss man schauen, ob man nicht schwer krank ist. Das führt zu einer verstärkten Selbstbeobachtung.

Können Sie in Ihrer Praxis eine Zunahme von psychischen Belastungen feststellen?

Psychotherapeuten werden mehr beansprucht. Die Verunsicherung, die Angst, das Rauben der Zukunft, das führt zu starken Zusatzbelastungen. Und die Kraft und Widerstandsfähigkeit nehmen ab, denn die anderen Konflikte oder Probleme in Partnerschaft und Arbeit sind ja nicht weg.

Vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist es besonders schlimm. Die kommen aus ihrem Elternhaus nicht raus oder gehen als Studenten nun bald ins vierte Digitalsemester. Und wenn sie dann noch keine Partner finden und Portale wie Tinder nichts für sie sind, dann kann das eine Depression oder Angststörung auslösen.

Was hat sich für Sie persönlich verändert?

Ich habe den ungeheuren Wert von Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen neu schätzen gelernt, also von Beziehungen, die den Ausnahmezustand überdauern. Und als Psychotherapeut und Analytiker bin ich besonders auf das schwierige Verhältnis zwischen äußerer und innerer Realität aufmerksam geworden.

Psychoanalytiker neigen dazu, die Innenwelt überzubetonen. Und das wird nun ein Stück weit korrigiert. Man sieht, welche Rolle die Außenwelt spielt. Zwar immer auch in einem komplexen Wechselwirkungsverhältnis, aber die Bedeutung der realen Lebensumstände neu zu gewichten, das ist für mich der fachliche Anstoß.

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