Tödlicher Grenzkonflikt wegen einer Kamera

Kirgisen gegen Tadschiken: Die schwersten Auseinandersetzungen seit dem Ende der Sowjetunion kosten mehr als 50 Menschenleben

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 4 Min.

Sadyr Dschaparow will aufrüsten. »Wir brauchen eine gut trainierte und ausgerüstete Armee, die auch in schwer zugänglichen Gebirgsregionen kämpfen kann«, forderte der kirgisische Präsident am Mittwoch in seiner Rede an die Nation. Außerdem müssten in den grenznahen Gebieten Bürgerwehren gegründet werden. »Für den Fall eines Überfalls auf den Staat!«

Mit seinem Aufruf reagiert der Staatschef des zentralasiatischen Landes auf die blutigen Auseinandersetzungen mit dem Nachbarn Tadschikistan vom vergangenen Wochenende. Bei den schwersten Kämpfen in der Region seit dem Ende der Sowjetunion wurden mehr als 50 Menschen getötet, 200 Männer und Frauen verletzt und 300 Häuser, Geschäfte und Schulen zerstört, meldete die Nachrichtenagentur Ria Nowosti.

Aufgeflammt war die Auseinandersetzung im Dorf Kok-Tasch im Südwesten Kirgistans. Dort wollten tadschikische Beamte am Mittwoch vor einer Woche eine Überwachungskamera an einer Wasserverteilstation aufstellen. Die auf kirgisischem Gebiet gelegene Station leitet das in dem trockenen Grenzgebiet dringend benötigte Nass in den kirgisischen Tortkul-Stausee - aber auch in Kanäle auf der tadschikischen Seite. Anwohner von Kok-Tasch wehrten sich gegen das Vorhaben, Beschimpfungen flogen hin und her, anschließend Steine, schließlich peitschten Schüsse durch die Luft.

Zwischen den früheren Sowjetrepubliken kommt es seit Jahren immer wieder zu bewaffneten Scharmützeln und Schießereien. Grund dafür ist der umstrittene Grenzverlauf. Über Jahrhunderte spielten staatliche Grenzen in Zentralasien keine Rolle. Erst die Sowjets zogen administrative Trennlinien, die nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft zu Grenzen unabhängiger Staaten wurden - und quer durch Straßen und Wasserwege schnitten. Fast die Hälfte der rund 970 Kilometer langen kirgisisch-tadschikischen Grenze ist bis heute nicht demarkiert. Mehr als 100 Gesprächsrunden über den genauen Grenzverlauf zwischen Kirgistan und Tadschikistan gingen allein seit dem Jahr 2002 ergebnislos zu Ende.

Doch unter Kirgistans neuem Präsidenten Sadyr Dschaparow schien im Frühjahr plötzlich Bewegung in die festgefahrene Situation zu kommen. Der neue starke Mann in Bischkek kündigte an, die Grenzfragen innerhalb kürzester Zeit zu lösen. Zuerst schien er mit seinem Vorhaben auch Erfolg zu haben. Bereits Ende März verkündete Kamtschybek Taschiew, Chef des kirgisischen Staatskomitees für nationale Sicherheit, der auch mit Usbekistan bestehende Grenzkonflikt sei zu »hundert Prozent« gelöst. Beide Seiten würden eine Reihe von Gebieten austauschen. Doch die Erfolgsmeldung kam zu früh: Von dem Tauschdeal betroffene Kirgisen protestierten.

Davon unbeeindruckt wandte sich die neue Führung in Bischkek dem Grenzkonflikt mit dem hart autoritär regierten Tadschikistan zu. Um die Spannungen um die umstrittene Demarkationslinie zu lösen, schlug Kirgistan wiederum einen Landtausch vor: die vollständig von kirgisischem Staatsgebiet umgebene tadschikische Exklave Woruch im Austausch für noch näher zu bestimmende kirgisische Gebiete.

In der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe stieß das Angebot auf eisiges Schweigen. Nach Tagen der Stille ließ Langzeitpräsident Emomali Rachmon schließlich wissen, er sei an derlei Tauschgeschäften nicht interessiert. Anschließend setzte sich der 68-Jährige in den Hubschrauber und flog demonstrativ nach Woruch, um Gerüchte über Zugeständnisse zu zerstreuen. Die Exklave werde nie an Kirgistan übergeben.

Als Demonstration der Stärke inspizierte anschließend der Chef des tadschikischen Staatskomitees für nationale Sicherheit, Dajmumin Jatimow, die Grenztruppen. Soldaten, Panzer und schwere Technik wurden an der Grenze zusammengezogen. Dies deute darauf hin, dass die tadschikische Seite eine Eskalation vorausgesehen und sich auf einen Waffengang vorbereitet habe, schlussfolgert der Zentralasienexperte Edward Lemon von der texanischen »A&M«-Universität in einer Analyse. »Meiner Meinung nach hatte Tadschikistan nicht den Wunsch, diesen Vorfall zu verhindern.«

Anders sah es dagegen auf kirgisischer Seite aus. In Bischkek hatte man mit einem Waffengang offenbar nicht gerechnet und war entsprechend unvorbereitet: Als die Kämpfe um die Wasserverteilerstation ausbrachen, hielt sich der Leiter des Staatskomitees für nationale Sicherheit, Kamtschybek Taschiew, in einem nicht näher bestimmten Land zur medizinischen Behandlung auf. Der kirgisische Premier musste extra von einer Tagung der Eurasischen Wirtschaftsunion aus Russland zurückgeholt werden.

Unterdessen gingen tadschikische Verbände zu einem koordinierten Großangriff über. An mehreren Stellen überquerten Duschanbes Truppen die Grenze zum Nachbarland. Medienberichten zufolge kamen dabei Maschinengewehre, schwere Mörser und Raketen zum Einsatz. Tadschikische Militärhubschrauber operierten zeitweise in kirgisischem Luftraum. Kirgistan ließ rund 60 000 Anwohner der umkämpften Grenzregion vorübergehend ins Landesinnerere evakuieren - zumeist in die Lokalhauptstadt Batken. Die kirgisische Armee antwortete mit einem Gegenangriff und beschoss tadschikische Dörfer, Soldaten überschritten die Grenze.

Die heftigen Kämpfe endeten nach zwei Tagen. Kirgistan musste den Großteil der materiellen Zerstörungen verzeichnen. Die Staatschefs beider Länder einigten sich auf einen Waffenstillstand, sprachen sich für eine friedliche Konfliktbeilegung aus und nahmen die Verhandlungen über den umstrittenen Grenzverlauf wieder auf. Kirgistans Präsident Dschaparow schlug zudem die Bildung einer Friedenskommission vor, der Älteste aus tadschikischen und kirgisischen Grenzdörfern angehören sollen.

Beobachter wie der russische Zentralasienexperte Arkadi Dubnow zweifeln allerdings an einer dauerhaften Lösung. Zu groß sei das gegenseitige Misstrauen zwischen beiden Seiten mittlerweile. Der Konflikt bedürfe der Vermittlung von außen. Am wahrscheinlichsten sei zurzeit daher ein Einfrieren der Spannungen, dies rette Menschenleben.

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