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Sozialist im weißen Kittel

Der Arzt Henry E. Sigerist war einer der Protagonisten der Sozialgeschichte der Medizin und setzte sich zudem für ein öffentliches und nicht an Profit orientiertes Gesundheitswesen ein - mit weltweiter Wirkung

  • Anjana Shrivastava
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Sommer des Jahres 1935 stand der Arzt Henry E. Sigerist - geboren in Paris, mit Eltern aus Schaffhausen in der Schweiz - auf dem Roten Platz in Moskau und beschloss, dass dieser Moment der bewegendste seiner sowjetischen Reise sein sollte. Mehr als 100 000 junge Menschen marschierten auf, gesund aussehend und bunt gekleidet. Der Arzt Sigerist sah in ihnen weniger eine Parade für Stalin als einen Umzug von gesunden Menschen, geradezu eine Parade der Gesundheit selbst: «Wenn du einen solchen Anblick vor dir hast und weißt, dass diese Menschen vor der Revolution in Slums voller Dreck, Alkohol und Krankheit gelebt hätten, dann merkst du schon, für wen die Revolution gemacht worden ist.»

Doch fast wäre Sigerist gar kein Arzt geworden: 20 Jahre zuvor, jung und von seinem Medizinstudium in München zutiefst frustriert, floh er mit einem Freund Hals über Kopf nach Venedig, um die Kunst und Sonne Italiens zu erleben. Im Café an der Piazza San Marco wurde er dann von einer Vision überwältigt: Um als Arzt nicht geistig zu verhungern, würde er die Geschichte der Medizin studieren. Wenige Tage später fand er in der Münchner Bibliothek die Schriften des Leipziger Professors Karl Sudhoff. Sudhoff leitete seit 1905 in Leipzig das weltweit wichtigste Institut für Medizingeschichte, die er selbst als Fach begründet hatte. Viele Professoren und Studenten der Medizin betrachteten die Beschäftigung mit der Geschichte ihrer Wissenschaft als «unnützen Irrweg». Doch Sudhoff und Sigerist fürchteten, dass mit der fortschreitenden Verwissenschaftlichung die sozialen Aspekte der Medizin aus der Disziplin verschwinden würden. Sigerist begriff die Medizingeschichte gar als Herzstück der Disziplin. Es sei «eine blutig-ernste Angelegenheit, mit Hilfe der historisch-philosophischen Methode die lebendigen Probleme der Gegenwartsmedizin zu lösen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Blüte der Sozialmedizin

Nach seinem Dienst als Sanitätsarzt im Ersten Weltkrieg besuchte der junge Arzt Sigerist 1919 zum ersten Mal Professor Sudhoff in Leipzig. Als Sudhoff im Jahr 1925 emeritiert wurde, ernannte man Sigerist zu seinem Nachfolger. Es folgte eine Zeit der Entfaltung der Sozialmedizin, die mit der Entwicklung der Bauhaus-Bewegung vergleichbar wäre, wäre nicht der Name Sigerist in Deutschland fast gänzlich vergessen. Er betrieb Wissenschaft nicht als Selbstzweck im bürgerlichen Sinn, sondern als Methode für gesellschaftliche Veränderung. An seinem schnell wachsenden Institut organisierte er Seminare, Forschungen und Gastvorträge von engagierten Medizinern wie Alfred Grotjahn und Richard Koch zu mitunter heiklen Themen wie »Die Rolle des Arztes und der Staat«. Auf der Hygiene-Weltausstellung in Dresden im Jahr 1930 lernte Sigerist den sowjetischen Arzt Ilja Davidovic Strašun kennen und bat ihn, über die Fortschritte der sowjetischen Revolution zu referieren.

Angesichts der großen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre musste Sigerist um die Finanzierung des Instituts kämpfen, förderte es sogar mit fast 30 000 Mark aus der eigenen Tasche. Doch bald wurde ihm klar, dass seine Tage in Deutschland gezählt waren. »Ich wusste, dass ich auf allen schwarzen Listen stand …, ich hatte im Sommer 1926 in Weimar an der Tagung der republikanischen Universitätsprofessoren teilgenommen … war auch Mitherausgeber der ›Neuen Blätter für den Sozialismus‹ und endlich hatte ich im Sommer 1932 zwei dicke Nazis, die in voller Uniform erschienen, eigenhändig aus meinem Hörsaal hinausgeworfen«, schrieb er 1932 in sein Tagebuch. Im selben Jahr folgte er einem Ruf an die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (USA).

Medizin als Gewerbe

In den USA, in der Zeit von Franklin D. Roosevelts »New Deal«, traf Sigerists Projekt auf enthusiastische Studenten und skeptische Ärzte. Er vertrat die Position, Medizin sei, auch wenn die Ärzte dies nicht so sähen, seit der Renaissance ein Gewerbe. Wenn aber der Patient dem Arzt Geld für die Behandlung bezahlen müsse, sei etwas schief gelaufen. Denn so müsse der Arzt von der Krankheit leben - je kränker der Patient, desto besser für den Arzt. Auf diese Weise werde zwar die Wissenschaft gedeihen, die Bevölkerung aber oft unbehandelt zurückbleiben. Dieses »Zeitalter der therapeutischen Medizin« (Sigerist) sei nirgendwo deutlicher entwickelt als in den USA. Als Gegenentwurf hierzu forderte der Medizinhistoriker ein »Zeitalter der Prophylaxe«, in dem Arzt und Patient von Staat und Gesellschaft bei der Vorbeugung von Krankheiten und ohne Profitinteresse unterstützt werden.

Sigerist beschrieb, wie er nach seiner Ankunft in New York City vom Hotelzimmer auf die gewaltige Metropole schaute und ihm klar wurde, was für ein »ungeheurer Wille« diese Stadt hervorgebracht haben musste. Aber bald schon ahnte er, dass in den USA ebenso enorme Beharrungskräfte lauerten. Der 1935 verabschiedete Social Security Act enthielt keine Krankenversicherung: Noch 1938 kämpfte die US-Regierung erfolglos mit Antimonopolgesetzen gegen die organisierte Ärzteschaft. »Hier kämpften die Ärzte gegen das Volk. Die Ärzte als Feinde des Volkes. Was für ein abstoßendes Schauspiel«, notierte Sigerist dazu. Die deutsche Medizin wiederum versank in dieser Zeit, so der Medizinhistoriker, in »Mystik und Reaktion«. 1934 erhielt er die Nachricht, dass sein Förderer Karl Sudhoff im Alter von 80 Jahren in die NDSAP eingetreten war. »Ein unerschütterlicher Liberaler und Rationalist sein ganzes Leben ... Ich habe nur eine Erklärung dafür«, schreibt Sigerist in seinem Tagebuch, »dass er von fanatischem Patriotismus getrieben wurde«.

Auf seiner Suche nach dem »Zeitalter der Prophylaxe« blickte der Medizinhistoriker in die Sowjetunion, die als einziger Staat Aussicht auf Hoffnung bot. Schon 1935 auf seiner ersten Schiffsreise von London nach Moskau bemerkte Sigerist erstaunt, dass auf dem Schiff ein Zahnarzt fest angestellt war, damit die Matrosen nicht während ihrer knappen Zeit an Land zum Zahnarzt gehen mussten. Auf diesem ersten Besuch und in den Jahren 1936 und 1938 bereiste Sigerist die gesamte Sowjetunion, besichtigte Fabriken, Krankenhäuser, Kliniken, Straßen, Bahnhöfe und Kantinen. 1937 erschien sein Buch »Socialised Medicine in the Soviet Union« (auf Deutsch »Sozialisierte Medizin in der Sowjetunion«), das die Entwicklung der sowjetischen Medizin nachzeichnet.

Der Sozialismus und die Laus

Sigerist beschreibt in seinem Buch die Anfänge der »Zemstvo-Medizin« im 19. Jahrhundert und die idealistischen jungen Narodniki, die der Unterversorgung der russischen Landbevölkerung abhalfen. Angesichts der durch den Ersten Weltkrieg und den russischen Bürgerkrieg enorm verschärften Lage war die Befreiung der Bevölkerung etwa von übertragbaren Krankheiten nicht nur eine Errungenschaft der russischen Revolution, sondern zugleich deren Voraussetzung: »Entweder wird der Sozialismus die Laus vernichten oder die Laus wird den Sozialismus besiegen«, soll Wladimir Iljitsch Lenin 1919 gesagt haben. Detailliert schildert Sigerist in seiner Studie den Kampf gegen Typhus in den 1920er Jahren, als eine Hungersnot die Seuche noch verschlimmerte, als es weder Seife noch andere Desinfektionsmittel gab.

»Sozialisierte Medizin in der Sowjetunion« geht auch auf die ersten Errungenschaften der sozialistischen Medizin ein: Kliniken mit Bibliotheken, Waldschulen und Freiluftklassen für Kinder mit Tuberkulose, Fabriken, wo lungenkranke Arbeiter an langsameren Fließbändern arbeiteten. Amüsiert erinnert Sigerist eine Zugreise von Moskau nach Kasan, auf der die Schaffnerin alle zwei Stunden zum Putzen in sein Abteil kam - mit der Erklärung, der Gesundheitsinspektor könne bei jeder Station herein kommen und dann müsse alles so sauber sein wie zu Beginn der Fahrt. Auch die sterilisierten Umhänge und Kopfbedeckungen auf frühen Fotos der sowjetischen Produktionsstätten fand Sigerist lustig. Diese Übertreibung sei die Konsequenz einer enormen Anstrengung zur Umerziehung, die die neuen Regeln eben zunächst sehr eng interpretiere.

Die Reaktionen auf »Sozialisierte Medizin in der Sowjetunion« in der restlichen Welt fielen sehr geteilt aus. Das Titelbild des US-amerikanischen »Time Magazine« zeigte Sigerist 1939 als »Jünger der sozialisierten Medizin«. Ihm wurde Propagandismus vorgeworfen, er habe sich auf Potemkinsche Dörfer eingelassen - worauf Sigerist konterte, seine Kritiker seien genauso von Propaganda geblendet. In Großbritannien, wo der »Left Book Club« eine preisgünstige Ausgabe druckte, erreichte das Buch alle Ecken, Übersetzungen erschienen in Havanna, Bombay, Osaka und Shanghai.

Licht am Ende des Tunnels

Die Ausgabe allerdings, die Sigerist persönlich am meisten bedeutete, war eine Raubkopie in französischer Sprache: Belgische Ärzte hatten im Jahr 1942 im Untergrund 4000 Exemplare einer Zusammenfassung des Buches unter dem Titel »Dr. Antoine, à propos d’un cas d’ulcus duodénal« (zu Deutsch: Dr. Antoine, über einen Fall von Zwölffingerdarmgeschwür) drucken lassen. 500 Exemplare wurden von der Gestapo konfisziert, zwei Druckereiarbeiter kamen dabei zu Tode. Aber für die kommunistischen Antifaschist*innen war das sowjetische Beispiel, hier verkörpert in der Medizingeschichte H. E. Sigerists, das Licht am Ende des Tunnels.

Nach dem Bündnis mit Stalin 1943 stieg auch in den USA das Interesse für die Sowjetunion. In jenem Jahr, in dem die deutsche Wehrmacht Tausende neue medizinischen Einrichtungen in der Sowjetunion zerstörte, gründete Sigerist die Zeitschrift »American Review of Soviet Medicine«. 1944 machte er eine Indienreise, drei Jahre später geriet er in den Fokus der antikommunistischen McCarthy-Kampagne. Daraufhin kehrte der Wissenschaftler 1947 doch wieder nach Schaffhausen zurück, um seine Universalgeschichte der Medizin zu schreiben. Henry E. Sigerist starb 1957 im Kanton Tessin, nach langer Krankheit und mit nur 66 Jahren.

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