Wohlstand im Endstadium

Unter Kohl war Westdeutschland schöner: Der Antibildungsroman »Die Geschichte eines einfachen Mannes«

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 4 Min.

Alles so schön paradox hier. Es kann heutzutage selbst Linken passieren, dass sie sich nach 16 Jahren Angela Merkel nicht etwa in die Amtszeit des letzten sozialdemokratischen Bundeskanzlers, des Arbeitersohns Gerhard Schröder, zurücksehnen, sondern eher in die des letzten »konservativen«, Helmut Kohl. Denn bei dem gab es noch eine Vermögenssteuer, halbwegs vernünftige Löhne und auf hohe Einkommen einen Spitzensteuersatz von 56 Prozent.

Aus heutiger Sicht verwundert es also wenig, dass sich der namenlose Ich-Erzähler in Timon Karl Kaleytas autobiografisch gefärbtem Roman »Die Geschichte eines einfachen Mannes« als scheinbar einziger Mensch auf der Welt im Wahlherbst 1998 keine »Veränderung« wünscht. Sondern lieber eine Fortsetzung der schönen alten Wohlstandswelt, in der man es auch aus schwierigen Verhältnissen kommend noch zu einem bescheidenen Reihenhausglück bringen konnte. Seine Kindheit in einer westdeutschen Vorstadt erinnert der kurz vor dem Abitur Stehende »als eine einzige, nie endende Aneinanderreihung schöner und allerschönster Momente«. Die folgende Konfrontation des kohlromantischen Helden mit dem Realitätsprinzip der Schröderjahre schildert Kaleyta in einer furiosen Fusion aus Taugenichts- und Schelmenroman. Treffsicher beschreibt er eine Generation im Übergang, die eigentlich immer alles hatte und deswegen besonders schlecht darauf vorbereitet ist, dass sich plötzlich nichts mehr von selbst versteht.

Ließ er in all seiner Aufstiegsgewissheit in den letzten Schul- und ersten Erwachsenenjahren zunächst noch selbstzufrieden die Zügel schleifen, muss der sich mindestens für hochbegabt haltende Held mit seinem Durchschnittsabitur schließlich damit vorliebnehmen, sein Glück in den massenuniversitär verwahrlosten Geisteswissenschaften zu versuchen. Das gelingt ihm auch vortrefflich. Nur muss er nach Jahren des vorbildlichen Fleißes in sinnfreien Studien, nach den obligatorischen Auslandssemestern und Abschlüssen mit Bestnote leider feststellen, dass Erfolg auf diesem Lebensweg nicht viel mehr bedeutet, als nach dem Studium an der Uni befristet eine halbe Stelle im Verwaltungsbereich zu vertreten.

Doch zum Glück bietet sich dem selbstverliebten Genie unversehens eine Karriere als Popstar an, die er mit demselben (ego)manisch-nachlässigen Ehrgeiz ergreift wie zuvor auch alle anderen Chancen des Lebens. Doch als sich zuletzt auch dieser Traum auf tragische Weise zerschlägt, bleibt dem hochverschuldeten Mittdreißiger, der er inzwischen ist, nicht einmal der Ausweg, den ihm hellsichtig einst einer seiner Professoren verheißen hatte: wenigstens noch eine gute Partie auf dem Heiratsmarkt zu machen. Die überaus fürsorglichen Frauen, die seinen Lebensweg bislang säumten, hat er im Zuge seiner diversen Karriereambitionen inzwischen erfolgreich vergrault oder vergessen.

Falls es noch nicht klar geworden sein sollte: Kaleytas Held ist bei aller charmanten Kindsköpfigkeit ein astreiner Unsympath, ein naiv-narzisstischer Riesenarsch und veritabler Egomane (in der Hörbuchfassung wird das alles nur ein klein wenig abgedämpft durch den spitzbübischen Charme von Sprecher Christoph Gawenda). Und natürlich fiebern wir mit ihm dem Ende seines biografischen Abstiegs entgegen, der ihn von der westfälischen Provinz über die Unis in Bochum, Düsseldorf und Madrid zuletzt doch noch in die Hauptstadt der gescheiterten Brotloskünstler verschlägt - eine herrlich launige Volte, mit der Kaleyta seinen Roman auch zu einem dankbaren Stück Anti-Berlin-Literatur macht. Vollkommen verarmt und verlottert, ist es für den einstigen Kohl-Fanboy nun die finale Stufe der neoliberalen Selbstverwirklichungsmaschinerie, in Berlin zu einem lohnversklavten Kunstgalerie-Hausmeister zusammengestaucht zu werden - und das auch noch als großes Glück zu empfinden.

Kaleytas Geschichte dieses am Ende vielleicht doch ganz »einfachen« Mannes ist ein ebenso hochkomischer wie tiefbitterer Blick auf eine Generation, in der mitunter maximaler individueller Narzissmus auf minimale soziale Wärme trifft - gesamtgesellschaftlich gesehen ein Worst-Case-Szenario. Die postromantische Schelmengeschichte mutiert somit zu einer Art nachbürgerlichem Antibildungsroman ohne Ausbruchsperspektive. Im Gegensatz etwa zu Leif Randts jüngstem Roman ist dies kein ironisch-optimistisches »Allegro Pastell«, sondern eher ein satirisch-vernichtender Abgesang auf die Generation Wohlstand im Endstadium. Das Perfide daran ist, dass Kaleytas Roman noch in seiner Kritik die neoliberale Verantwortungsideologie verinnerlicht zu haben scheint: Sein narzisstischer Antiheld ist an seinem bis zuletzt noch als Erfolg gefeierten Abstieg schlussendlich immer selbst schuld.

Timon Karl Kaleyta, Die Geschichte eines einfachen Mannes, Piper, 312 S., 20 €. Als Hörbuch, gelesen von Christoph Gawenda, erschienen bei Tacheles!/Roof Music.

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