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  • »Goodyear« von René Pollesch

Volle Beschleunigung

René Pollesch sorgt mit »Goodyear« für einen klugen und heiteren Bühnenabend am Deutschen Theater

Pilotprojekt, wie dieses Wort schon klingt! Irgendwie fortschrittlich, für die Zukunft gewappnet. Wenn in diesen Tagen davon die Rede ist, geht es darum, Normalität trotz viraler Umtriebe wieder zu ermöglichen. Man atmet Hoffnung: Das Virus und damit der kulturelle Stillstand der vergangenen sieben Monate werden nicht mehr ewig dauern. Nachdem mit Schleswig-Holstein schon vor Wochen ein ganzes Bundesland zum Projektgebiet erklärt wurde, geht auch Berlin unter dem etwas holprigen Namen »Perspektive Kultur: Pilotprojekt Testing« wieder erste vorsichtige Schritte in Richtung lebendige Stadt.

Die Schaubühne und das Berliner Ensemble, das Grips-Theater und das Literaturforum im Brecht-Haus, sie alle haben Veranstaltungen angemeldet, die nicht mehr vor dem heimischen Bildschirm - ganz im Zeichen der Vereinzelung des Einzelnen -, sondern als kollektive gesellschaftliche Ereignisse stattfinden. Pilotprojekt bedeutet aber kein bisschen Höhenflug: Die einstudierten Abstandsregeln, Maskenpflicht, limitierte Plätze, vor allem aber ein tagesaktueller Test lassen die grassierende Pandemie nicht in Vergessenheit geraten - und ermöglichen sogar etwas Sorglosigkeit.

Und so findet ein lang erwartetes Kulturereignis doch noch statt: Autor und Regisseur René Pollesch legt mit »Goodyear« seine wohl vorerst letzte Arbeit am Deutschen Theater in Berlin vor, bevor er im Spätsommer zurück an die Volksbühne wechselt, wo er bereits unzählige Inszenierungen auf die Bühne gebracht hat und bald als Intendant die künstlerischen Geschicke lenken wird.

Vorbei an der Bundesgeschäftsstelle der FDP und auch an dem ganz außergewöhnlich hässlichen, aber gewaltigen Bau der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung - und schon steht man wieder auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters in Berlins Mitte, wo schon einige Seiten Theatergeschichte geschrieben wurden. Nach einigen Szenen zwischen Klugheit und Klamauk - unverkennbar Pollesch - tritt das fünfköpfige Ensemble nach vorn und setzt sich aufgereiht an die Bühnenrampe: Christine Groß und Astrid Meyerfeldt, Katrin Wichmann und Jeremy Mockridge und ganz rechts die Grande Dame Sophie Rois, die nach einer gekonnten Kunstpause mit Blick ins Publikum deklamiert: »Was ist jetzt? Gar nichts hat sich verändert. Nichts!«

Tatsächlich scheint hier vieles unverändert. Nur der Premierensekt - oder wie im Deutschen Theater mittlerweile üblich: der Premierenwodka - fehlt. Das Publikum zeigt sich dennoch heiter und lässt sich auf charmante Weise unterhalten. Pollesch tut, was er immer tut, wenn man ihm eine Bühne gibt. Er erzählt keine Geschichte, er versucht keine emotionale Verwicklung des Zuschauers, sondern er lässt sich beim Denken zusehen - und vermag die Zuschauer selbst ins Denken zu versetzen. Und weil die Zeiten des Illusionstheaters mehr als vorbei sind, bleibt der Zuschauersaal erleuchtet. Hier werden keine Rollen gespielt, sondern man spielt nur, dass man spielt. Die Brecht’sche Ambivalenz zwischen Spielen und Zeigen erfährt mit dieser Form des Theaters ihre Quadratur - bis einem schwindlig wird.

Die Darsteller agieren vor einem mit einer Wolkenlandschaft bedruckten Vorhang. Sonst bleibt die Bühne (Barbara Steiner) weitgehend leer. Mal verirrt sich ein Regiestuhl, mal ein Megafon auf die Spielfläche. Nachdem die Trauerkleidung in der Eröffnungsszene abgelegt ist, sind die fünf Spieler mit Rennfahreranzügen kostümiert (Tabea Braun). Und dann folgen die Sprechsalven, Satzschleifen und assoziationsreichen Dialogketten.

Pollesch macht die Schauspielkunst selbst zum Gegenstand dieses Theaterabends. Der Theatermacher, der seine Darsteller über Jahre mit Theoriebausteinen bewaffnet auf die Bühne geschickt hat, um das Theater als Fortsetzung poststrukturalistischer Diskurse mit anderen Mitteln zu benutzen, setzt damit einen neuen Ansatz fort. Bereits in seinen letzten Theaterarbeiten hat Pollesch die ganz großen philosophischen Themen ausgelassen, um sich - nicht weniger theoriebeseelt - auf die Spur der szenischen Künste zu begeben. Von Brecht bis Hollywood unterzieht er alles seiner theatralen Untersuchung.

In »Goodyear« fragt sich das Fünfergespann, was das ist: eine Rolle. Von der Annäherung an den unmöglichen Beruf des Schauspielers geht es weiter zur unmöglichen menschlichen Existenz überhaupt. Dass das höchst unterhaltsam ist, sogar Spaß an der Verworrenheit entsteht, liegt zum einen an den herausragenden Schauspielern. Zum anderen denkt Pollesch gar nicht daran, ein Hauptseminar auf der Theaterbühne abzuhalten. Stattdessen unterfüttert er seine gedankenschwere Bühnenkunst mit Witz und Slapstick.

Wo über das Ich, die Lust an der Verstellung, über das Anblicken und Angeblicktwerden gesprochen wird, da hält schon bald die Psychoanalyse Einzug in die Bühnendialoge. Mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek im Gepäck widmen sich die Spieler den Abgründen der menschlichen Sexualität, die ohne - zumindest imaginierten - Zuschauer gar nicht denkbar ist und damit eine grundlegende Eigenschaft mit der Kunst teilt. Die Bühnenbildnerin lässt als aus Hollywood allseits bekanntes, libidinöses Zeichen einen gigantischen Frauenschuh, begehbar, weiß, mit hohem Absatz und mit Glühbirnen bestückt, auf die Bühne fahren. Bühnenpersonal und Zuschauer haben daran sichtlich Spaß.

Die Rennfahrerpersiflage und der so lässig daherkommende Abgesang auf das Machotum wirken stärker als jedes Gendersternchen. »Am Ende meines Lebens seh’ ich mir lieber ’ne verrostete Ölwanne an und sage, das ist das Leben, mehr war’s nicht«, lässt Rois ihre Mitspieler und das Publikum wissen. Nach gut einer Stunde ist die Vorstellung vorbei. Mit einem Wortschwall überschüttet, verlässt man vergnügt das Theater und würde wiederkommen, wenn man darf.

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