Den Bestien bei der Arbeit zusehen

Der Katastrophen-Liveticker ist die Bärenhatz unserer Zeit, da hat es das Theater schwer

Gibt’s auch in weniger niedlich: Braunbär bei fernöstlicher Meditationsübung
Gibt’s auch in weniger niedlich: Braunbär bei fernöstlicher Meditationsübung

Das Volkstheater, wie es der Genosse Shakespeare pflegte, musste mit dem stark ausgeprägten Vergnügungsangebot seiner Zeit konkurrieren. Mord und Intrigen, Schlüpfriges und Derbes finden sich also nicht zufällig in seinen Dramen. In London, der Hauptstadt auch des Verbrechens, wusste das Volk sich zu unterhalten: Hinrichtungen konnte man als Schaulustiger beiwohnen oder einen der unzähligen Pubs aufsuchen.

Hauptsächlich stand das Theater als Vergnügungsstätte aber in Konkurrenz zu den Bordellen und den Arenen, die zur Bärenhatz dienten. Was ein Bordell ist, liebe Leserin, lieber Leser, das muss und werde ich Ihnen nicht erklären. Im sogenannten Beargarden wurden im London des 16. und 17. Jahrhunderts für ein interessiertes Publikum vornehmlich Bären und Bullen von Kampfhunden gehetzt. Dass es für die Tiere recht blutig ausging, versteht sich. Aber auch Zuschauer kamen mitunter ums Leben.

Genosse Shakespeare

Wie es euch gefällt: Alle zwei Wochen schreibt Erik Zielke über große Tragödien, politisches Schmierentheater und die Narren aus Vergangenheit und Gegenwart. Inspiration findet er bei seinem Genossen aus Stratford-upon-Avon.

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Und wie der Genosse Shakespeare in dieser Zeit Dramatik und Theater – mit Wirkung bis heute – gehörig auf die Sprünge half, so verfeinerten auch die Anbieter der bestialischen Spektakel die Dramaturgie ihrer Darbietungen. Man ließ beispielsweise zunächst drei Bären nacheinander zurichten, ehe man zur Abwechslung ein Pferd in die Arena ließ, das dort ebenfalls gehetzt wurde. Alsbald folgte die Bullenhatz. Dann sorgten Artisten für Unterhaltung, mit Tanz und Kampf, Improvisation und Zauberstückchen. Den Höhepunkt bildete ein Feuerwerk.

In unzähligen Varianten sind solche Unterhaltungsabende überliefert. Auch von einem Pferd, dem ein Affe auf den Rücken gebunden war und das gehetzt wurde, kann man lesen. Angesichts eines solchen Angebots musste der Theaterunternehmer Shakespeare schon mit etwas Außergewöhnlichem aufwarten.

Dem Theater heute, so wird nicht nur behauptet, nein, so ist auch deutlich zu spüren, ist seine einstige Bedeutung abhandengekommen. Und im Meer der (Massen-)Medien geht die darstellende Kunst regelmäßig unter. Netflix wird häufig als der Hauptfeind ausgemacht, dabei ist die Krise des Theaters schon ein paar Jahre älter als der Streamingdienstleister.

Sucht man nach der Bärenhatz unserer Tage, wird man schnell woanders fündig. Die Lust am blutigen Geschehen aus (meist) sicherem Abstand und die Gier nach neuen Attacken bei ausbleibender Analyse kennen auch heute ihre Anhänger. In den Krisen-Livetickern von »Spiegel Online«, »Bild«, »Zeit« und all den anderen, die sich der Schaulust verpflichtet fühlen, darf man sich in Minutenschnelle die Raketeneinschläge präsentieren lassen. In der Ukraine und Russland, in Israel, dem Iran und Gaza werden die Toten gezählt und dem Online-Publikum sogleich zur Information weitergereicht.

Ob einen das aber klüger oder zumindest empfindsamer macht? Ich bevorzuge eine andere Lektüre: zum Beispiel »Troilus und Cressida«.

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