»Der Osten muss bei uns in den Fokus«

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch will, dass seine Partei sich wieder stärker um ostdeutsche Interessen kümmert

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 11 Min.

Vom Bundesparteitag der Linken soll an diesem Wochenende ein Aufbruchsignal ausgehen. Wie kann das kurz nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gelingen, wo die Linke fast ein Drittel der Stimmen verloren hat?

Jeder Bundesparteitag spielt bei uns eine herausragende Rolle. Wir werden nach breiter Debatte unser Wahlprogramm verabschieden, spannende Diskussionen erleben und uns als Partei präsentieren, die geschlossen in die Wahlauseinandersetzung geht. Ich bin zuversichtlich, dass wir das hinbekommen. Wir hatten in den vergangenen Wochen einige unerfreuliche Ereignisse, aber ich bin sicher, dass jetzt die übergroße Mehrheit erkennt, dass wir die politischen Konkurrenten ins Visier nehmen und die Dinge, über die wir innerhalb der Partei weiter diskutieren müssen, zurückstellen werden.

Dietmar Bartsch

Dietmar Bartsch ist seit Herbst 2015 Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. Diese führte er zunächst gemeinsam mit Sahra Wagenknecht und seit gut eineinhalb Jahren mit Amira Mohamed Ali. Bei der Bundestagswahl tritt Bartsch im Team mit Parteichefin Janine Wissler als Spitzenkandidat an. Er war früher Bundesgeschäftsführer der Linkspartei und zählt zu den ostdeutschen Reformern.

Trotzdem bleibt nach der Wahl in Sachsen-Anhalt und vor der Bundestagswahl sowie den anstehenden Landtagswahlen die Frage, wie die Linke auch im Osten Wähler zurückgewinnen kann.

Tatsächlich wird der 26. September dieses Jahres mit der Bundestagswahl sowie den Wahlen in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und vermutlich auch in Thüringen ein wichtiges Datum für uns und für die Weiterentwicklung der Linken in Deutschland über unsere Partei hinaus sein. Zum Ergebnis in Sachsen-Anhalt will ich trotz der schmerzenden Verluste für die Linke festhalten, dass wir die drittstärkste Kraft geblieben sind. Die Partei hat dort einen guten, engagierten Wahlkampf geführt und wir haben zum Schluss die Kurve gekriegt. Niemand kann sich aber vom Bundestrend lösen. Wenn wir im Bund zwischen sechs und sieben Prozent in den Umfragen stehen, dann ist in den ostdeutschen Ländern - mit Ausnahme von Thüringen, weil wir dort den Ministerpräsidenten stellen - nicht so viel mehr drin als die elf Prozent in Sachsen-Anhalt. Die Themensetzungen in diesem Bundesland waren richtig. Die Spitzenkandidatin Eva von Angern hat einen hervorragenden Job gemacht. Auch die Unterstützung aus den anderen Landesverbänden und der Bundespartei war gut. Aber viele Ältere sehen unsere Kompetenz in ostdeutschen Fragen nicht mehr so stark wie früher. Bei der Frage, welche Partei am ehesten ostdeutsche Interessen vertritt, sind wir in Umfragen weiterhin auf Platz eins, aber nur noch mit 24 Prozent vor der CDU und der AfD. Da müssen wir uns fragen, was wir in den vergangenen Jahren falsch gemacht haben.

Welche Schlüsse sollte die Linke daraus ziehen?

Die Kompetenz, in besonderer Weise ostdeutsche Interessen wahrzunehmen, muss aus meiner Sicht bei uns eine größere Rolle spielen. Wir haben das Thema trotz des Engagements Einzelner vernachlässigt, dabei ist es weiterhin aktuell. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass bei gleicher Arbeit die Löhne im Osten noch immer niedriger sind als im Westen Deutschlands und die Rentenangleichung nicht vollzogen ist. In der schwarz-rot-grünen sachsen-anhaltischen Landesregierung von Reiner Haseloff sind nur zwei ostdeutsche Minister vertreten. Das stelle man sich mal umgekehrt in westdeutschen Ländern wie Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen vor. Der neue Zugang, den wir zu dem Thema nun im sachsen-anhaltischen Wahlkampf gefunden haben, kann auch hilfreich für die Auseinandersetzung bei der Bundestagswahl sein.

Gibt es dann aber nicht ein Vermittlungsproblem zwischen der Linken und den Wählern, wenn die Themensetzung im Wahlkampf aus Ihrer Sicht richtig war, aber das Ergebnis nicht sonderlich berauschend?

Nein. Umfragen zeigen, dass die Wähler uns auch am ehesten zutrauen, die Probleme zu lösen. Die Kompetenzzuweisungen sind in den vergangenen Jahren allerdings gesunken. In Sachsen-Anhalt spielte zudem das Thema Durchsetzungskompetenz eine wichtige Rolle. Es gab zu keinem Zeitpunkt eine realistische Alternative zu einer Regierung unter Führung der CDU. Die Union hat eine brillante Kommunikation hinbekommen, die mithilfe von Umfragen suggerierte, dass es hauptsächlich eine Wahl zwischen CDU und AfD war. Manche Wähler, die sonst für die Linke oder auch Sozialdemokraten beziehungsweise Grüne gestimmt haben, haben sich für die CDU entschieden, um einen Sieg der AfD zu verhindern.

Das ist sicherlich ein Grund für das Wahlergebnis. Ein anderer ist, dass bei den Wahltagsbefragungen in Sachsen-Anhalt eine weitverbreitete »Veränderungsmüdigkeit« ermittelt wurde, wie kürzlich Horst Kahrs im »nd« schrieb. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen in den jüngsten Wahlkämpfen?

Die Brüche, die viele Ostdeutsche erlebt haben, sind gewaltiger als die in den meisten westdeutschen Biografien. Angesichts der derzeitigen Krisen gibt es neue Brüche. Ich meine damit unter anderem den Klimawandel und seine Folgen, die soziale Spaltung der Gesellschaft und die Migration. Diese Brüche machen vielfach Angst. Haseloff und andere Politiker der Union stehen dafür, dass alles so weitergeht wie bisher. Dieser Wunsch ist weit verbreitet unter den Wählerinnen und Wählern. Das müssen wir ernst nehmen. Da ist die Analyse von Horst Kahrs richtig. Es ist aber immer auch die Aufgabe einer linken Partei, aufklärerisch zu wirken. Wir müssen deutlich machen, dass spätestens nach der Bundestagswahl die Frage ansteht, wer die Zeche zahlen wird. Die Bundesregierung hat 450 Milliarden Euro Schulden in der Coronakrise aufgenommen. Aus diesen Schulden kann man nicht nur herauswachsen. Wir wollen, dass nicht wieder die Pflegerinnen, Paketboten, Krankenschwestern und Fernfahrer für die Krise bezahlen, sondern die Milliardäre und Multimillionäre.

Sie sind mit dieser Forderung nicht weit entfernt von SPD und Grünen, die ihre Parteitage bereits absolviert haben und sich ebenfalls, wenn auch in geringeren Maßen als die Linkspartei, für Umverteilung einsetzen. Sollte die Linke auf einen grün-rot-roten Lagerwahlkampf setzen?

Wir werden im Wahlkampf ausschließlich für die Linke kämpfen. Im Unterschied zu den genannten Parteien haben wir eine klare Aussage: Wir werden niemals mit der Union im Bund eine Regierung bilden oder eine anderweitige Kooperation eingehen. Als Gründe dafür nenne ich hier nur die Masken- und Aserbaidschanaffäre sowie das Versagen von Verkehrsminister Andreas Scheuer und Gesundheitsressortchef Jens Spahn. Die Union muss abgelöst werden. Ob das möglich ist, wird wesentlich von unserem Ergebnis bei der Bundestagswahl abhängen. Dafür werbe ich und nicht für ein Bündnis. Alles andere kommt nach der Wahl.

Viele Bürger interessieren sich allerdings bereits vor der Bundestagswahl dafür, wie groß der Regierungswillen der Linken ist.

Wir sind eigenständig, aber natürlich bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen, wenn die Bedingungen stimmen. Zum Beispiel in Hessen und im Saarland lag es einst nicht an uns, sondern an unseren möglichen politischen Partnern, dass es nicht geklappt hat mit einer Zusammenarbeit. Sie haben aus unterschiedlichen Gründen eine Kooperation mit der Linken abgelehnt.

Anders als in den Bundesländern, wo es inzwischen einige Regierungsbeteiligungen der Linken gibt, würden im Bund auch außenpolitische Fragen anstehen, wo es Differenzen mit SPD und Grünen gibt. Was halten Sie von dem nun vorliegenden Antrag ihres Parteikollegen Matthias Höhn, der die Rolle der UN in der Weltpolitik betont und nur Kampfeinsätze der Bundeswehr ablehnen will, weiteres aber offen lässt?

Wir werden in dieser Frage mit einer klaren Positionierung in die Wahlauseinandersetzung gehen. Matthias Höhn hat dem Parteivorstand seine Haltung unterbreitet. Das entspricht einer gewissen Logik. Aber diese Anträge werden auf dem Bundesparteitag nicht behandelt. Die Linke ist und bleibt die Friedenspartei. Aber wenn sie in dieser Frage nicht mehr diskutiert und nur Bekenntnisse formuliert, dann ist sie handlungsunfähig. Wir wollen Friedenspolitik konkret umsetzen können und sagen, was in den kommenden vier Jahren möglich wäre. An vielen Stellen ist das Erfurter Programm eine gute Grundlage. Wir bleiben dabei, dass Kampfeinsätze in jedem Fall abzulehnen sind. Wir haben übrigens im Bundestag in dieser Legislaturperiode geschlossen gegen alle Auslandseinsätze der Bundeswehr gestimmt und in unseren Anträgen die deutschen Rüstungsexporte skandalisiert. Umgesetzt werden könnte in den nächsten Jahren zum Beispiel eine Politik der Abrüstung.

Wie groß müsste der deutsche Beitrag zur Abrüstung aus Ihrer Sicht sein?

Wir sind die Abrüstungspartei. Das bedeutet konkret, dass wir das Zwei-Prozent-Ziel der Nato kippen und von den Einsparungen aus dem Verteidigungsetat jährlich zehn Milliarden Euro in die Schulen geben wollen. Wir geben jetzt nach Nato-Kriterien mehr als 50 Milliarden Euro aus. Das ist wahnsinnig. Wir brauchen Geld für gute Bildung und nicht für Panzer.

Die Grünen setzen voll auf das Thema Klima. Wird das entscheidend sein beim Kampf um Wählerstimmen?

Der Kampf gegen den Klimawandel wird eine wichtige Rolle spielen. Wir sehen die riesige Herausforderung und setzen im Unterschied zu anderen Parteien auf Klimagerechtigkeit. Wir wollen ein gesellschaftliches Klima schaffen, das den Kampf gegen den Klimawandel ermöglicht. Es darf kein Elitenprojekt werden. Ich will die Sorgen der Krankenschwester, die in Vorpommern wohnt, eine Ölheizung hat und ein Auto mit Verbrennermotor fährt, ernst nehmen. Natürlich will auch ich, dass die Ölheizung schnell weg ist und sie keinen Verbrennermotor mehr fahren muss. Aber für die Krankenschwester selbst sind solche Veränderungen auch immer Bedrohungen. Unsere Aufgabe ist es, eine soziale Komponente beim Klimaschutz einzubringen. So muss man beispielsweise beim Austausch der Ölheizungen stärker die Vermieter in die Pflicht nehmen. Wir müssen dringend bei den Strukturen, bei der Produktion, bei den Konzernen ansetzen - statt den kleinen Leuten in die Tasche zu greifen. Hinzu kommt, dass die Politik auch rechtssicher sein muss. Das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung war hingegen in Teilen verfassungswidrig und musste überarbeitet werden.

Parteichefin Janine Wissler und Sie gehen als Spitzenkandidaten ins Rennen. Wird es eine Arbeitsteilung im Wahlkampf zwischen Ihnen und Frau Wissler geben?

Nein. Wir werden gemeinsam den Wahlkampf bestreiten und sind für das gesamte Wahlprogramm und grundsätzlich für alle Themen zuständig. Allerdings ist auch klar, dass wir bei dem großen Land nur selten zusammen bei Auftritten agieren können.

Sie sind außerdem seit bald sechs Jahren Vorsitzender einer streitbaren Fraktion, die sehr gerne diskutiert. Wie würden Sie mittlerweile das Klima in der Bundestagsfraktion beschreiben?

Keine Fraktion war so fleißig wie wir in der jüngeren Vergangenheit mit Anträgen, Anfragen und anderen Dingen. Ich bin stolz auf die in den vergangenen vier Jahren geleistete Arbeit. Dass wir diskussionsfreudig sind, ist normal. Nach Niederlagen ist es auch notwendig, dass über den richtigen Weg gestritten wird. Aber es gibt in der Öffentlichkeit nicht mehr die Streitigkeiten, wie sie früher ausgetragen wurden. Dass es nun weniger persönliche Auseinandersetzungen gibt, liegt auch an meiner Mitvorsitzenden Amira Mohamed Ali.

Trotzdem gibt es noch vereinzelt Unzufriedenheiten, von denen man hört. So treten etwa der Außenpolitiker Stefan Liebich und der Finanzpolitiker Fabio De Masi nicht noch einmal an. Wie schwer wiegt der Verlust dieser Fachpolitiker, die sich in ihren Bereichen einen guten Ruf erarbeitet hatten?

Das hat bei beiden sehr unterschiedliche Gründe, warum sie nicht mehr kandidieren wollen. Beide haben Pläne für die Zukunft und werden der Linken weiterhin zur Verfügung stehen. Ich habe sie für ihre fachpolitische Arbeit sehr geschätzt und ihre Abgänge sind ein Verlust für die Linksfraktion. Es gibt allerdings vereinzelt auch Menschen, die sagen, es sei ein Gewinn, dass sie nicht mehr dabei sind. Das teile ich ausdrücklich nicht. Vielmehr bedauere ich die Entscheidung von Stefan Liebich und Fabio De Masi ebenso wie bei anderen, zum Beispiel bei meinen Kolleginnen Heidrun Bluhm, Kersten Steinke und Kirsten Tackmann. Die Menschen wollen einen anderen Lebensabschnitt beginnen und treffen dann individuell diese Entscheidungen.

Diskussionen wird es aber weiterhin um Sahra Wagenknecht geben. Sie haben eine zeitlang mit ihr die Bundestagsfraktion geführt und kennen sie sehr gut. Wie soll man mit ihr umgehen?

Sahra Wagenknecht steht auf Platz eins der Landesliste Nordrhein-Westfalen für die Bundestagswahl und wird sich wie alle anderen Kandidatinnen und Kandidaten dafür einsetzen, dass wir ein sehr gutes Ergebnis erzielen werden. Das ist Konsens. Wir werden die nächsten 100 Tagen dafür nutzen, die Linke starkzumachen. Nach der Wahl haben wir genügend Zeit, um über unterschiedliche Sichten zu diskutieren. Ich bin diesbezüglich optimistisch, weil wir es in der Fraktion immer geschafft haben, bei allen zentralen Fragen eine gemeinsame Position zu erkämpfen. Es gab nicht einmal eine Situation, in der wir im Plenum unterschiedlich abgestimmt haben. Bei Gewissensfragen ist das etwas anderes. Aber in den Bereichen Frieden, Soziales, Finanzen und Wirtschaft haben wir immer gemeinsam agiert.

In der PDS waren Sie einer der jüngeren Politiker. Nun drängen immer mehr junge Leute in die Bundestagsfraktion, die nicht in der DDR sozialisiert wurden. Wie sehen Sie da Ihre Rolle?

Da müssen natürlich Brücken gebaut werden. Man benötigt immer den richtigen Mix aus erfahrenen und jüngeren Abgeordneten, die mit sehr viel Enthusiasmus starten. Ich glaube, dass es in 20 Jahren niemanden mehr in der Linksfraktion geben wird, der noch Erfahrungen aus der DDR mitbringt. Ich selber habe schon den größeren Teil meines Lebens in der Bundesrepublik verbracht und nicht in der DDR. Es ist aus meiner Sicht wichtig, Lebensleistung und Geschichte anzuerkennen. Ich will mir von politischen Konkurrenten nicht aufzwingen lassen, wie ich Geschichte zu sehen habe. Hinzu kommt, dass diejenigen, die sich in der politischen Linken engagieren, die Geschichte und die Traditionen kennen sollten. Denn ein Baum ohne Wurzeln verliert sehr schnell seine Blätter und Blüten.

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