Über den Himmel von Berlin

1418 Luftballons der Erinnerung

»Hast du etwas Zeit für mich?/ Dann singe ich ein Lied für dich/ Von neunundneunzig Luftballons/ Auf ihrem Weg zum Horizont ...« Das Lied »99 Luftballons« von Nena aus dem Jahre 1983 (Text: Carlo Karges, Musik: Uwe Fahrenkrog-Petersen) war einer der erfolgreichsten Songs der Neuen Deutschen Welle, stürmte auch international die Charts. Warum? Weil das einfach gestrickte, aber logisch stringente Lied den Nerv der Menschen dies- und jenseits des »Eisernen Vorhangs« traf. Die waren genervt vom Wettrüsten zwischen West und Ost, NATO-Doppelbeschluss, Pershing-II- und SS-20-Raketen einen neuen Krieg fürchteten, verheerender als der Zweite Weltkrieg, ein atomares Inferno. »99 Jahre Krieg/ ließen keinen Platz für Sieger/ Kriegsminister gibt’s nicht mehr/ und auch keine Düsenflieger/ Heute zieh’ ich meine Runden/ seh’ die Welt in Trümmern liegen./ Hab ’nen Luftballon gefunden/ Denk’ an Dich und lass’ ihn fliegen«, sang Pop-Ikone Nena.

Am Dienstag, den 22 Juni, findet anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion vor dem dem Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in der Berliner Friedrichstraße eine ungewöhnliche Aktion statt. Um diese mitzuerleben, müssen die Hauptstädter allerdings Frühaufsteher sein. In historischer Morgenstunde, um vier Uhr, als vor acht Dezennien 150 Divisionen und drei Millionen Wehrmachtssoldaten vertragsbrüchig die Grenze zur Sowjetunion überschritten, sollen vom Dach des Hauses 27 weiße Luftballons aufsteigen - erinnernd an die 27 Millionen gefallenen, ermordeten oder verhungerten Sowjetbürger. Sodann werden 1418 weiße Ballontauben in den Himmel über Berlin geschickt. Exakt 1418 Tage lang hatte der Große Vaterländische Krieg gedauert, wie der erbitterte Abwehrkampf gegen die deutschen Aggressoren 1941 bis 1945 noch heute in den postsowjetischen Staaten genannt wird.

»Meinst du, die Russen wollen Krieg?/ Befrag die Stille, die da schwieg/ im weiten Feld, im Pappelhain,/ Befrag die Birken an dem Rain./ Dort, wo er liegt in seinem Grab,/ den russischen Soldaten frag!/Sein Sohn dir drauf Antwort gibt«, dichtete dereinst Jewgeni Jewtuschenko (ins Deutsche übersetzt von Gisela Steineckert). Sein Poem wirkt wieder besonders aktuell. Nach Aufkündigung des START-Abkommens, NATO-Manövern an Russlands Grenzen, neuem Wettrüsten, Sanktionen und gebetsmühlenartiger Unterstellung aggressiven Gebarens des Anderen. Regelrecht gruselig, dass ausgerechnet ein sozialdemokratischer Außenminister, Heiko Maas, sich dieser Tage von EU und USA wünschte, sie mögen vereint und »schlagkräftig handeln« ob der Herausforderungen seitens Russlands. Markige Worte, eines Enkels der Entspannungspolitiker Willy Brandt und Egon Bahr unwürdig, die vom Friedenswillen und der Friedensfähigkeit des östlichen Partners ausgingen. Ungehörig zumal solch martialische Worte am Vorabend des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls.

Dahingegen scheint Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, vormaliger Außenminister, mit gleichem Parteibuch wie Maas, immerhin bemüht, die Schmach regierungsoffizieller Verweigerung der Erinnerung und des Eingeständnisses untilgbarer deutscher Schuld wettzumachen. Er absolviert derzeit einen regelrechten Gedenkmarathon. In der vergangenen Woche besuchte er die Gedenkstätte Lager Sandbostel in Niedersachsen, in dem 70 000 Soldaten der Roten Armee gelitten hatten, verlieh der russisch-belorussischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch (»Der Krieg hat kein weibliches Gesicht«) das Große Verdienstkreuz und eröffnete eine neue Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst: »Dimensionen eines Verbrechens«. Am morgigen Dienstag will er einen Kranz am Sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer Heide in Berlin-Pankow niederlegen.

In Karlshorst hatte Steinmeier betont: »Jeder Krieg bringt Verheerung, Tod und Leid. Doch dieser Krieg war anders. Er war eine deutsche Barbarei.« Und mit Blick auf den 22. Juni: »Machen wir uns an diesem Tag, an dem wir an Abermillionen Tote erinnern, auch gegenwärtig, wie kostbar die Versöhnung ist, die über den Gräbern gewachsen war. Aus dem Geschenk der Versöhnung erwächst für Deutschland große Verantwortung.«

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