Antifaschismus als Nötigung

Im Einsatz gegen Sitzblockaden schreibt die Berliner Polizei teils abenteuerliche Anzeigen

  • Darius Ossami
  • Lesedauer: 3 Min.

Im schmucklosen Raum der Abteilung für Ordnungswidrigkeiten des Amtsgerichts Tiergarten ist gerade mal Platz für fünf Zuschauer*innen. Am Mittwoch sitzt eine junge Antifaschistin vor dem Richter, weil sie an einer Sitzblockade gegen den Aufmarsch von Neonazis der faschistischen Splitterpartei »Der Dritte Weg« teilgenommen hat. Am 3. Oktober vergangenen Jahres hatten mehr als 1000 Antifaschist*innen die rund 300 Neonazis gezwungen, ihre geplante Demonstration durch Berlin-Hohenschönhausen deutlich zu verkürzen.

Das vermeintliche Vergehen der Antifaschistin: Nötigung. Zumindest sah die Polizei das so und erstattete Anzeige. Es folgte ein Bußgeldbescheid des Bezirksamts Lichtenberg, das allerdings nicht eingehaltene Mindestabstände monierte. Gegen den Bußgeldbescheid von 100 Euro legte die junge Frau dann auch Einspruch ein. Im Gericht verliest sie eine kurze Erklärung, in der sie betont, mit der Teilnahme an der Blockade ihrer »Pflicht als antifaschistische Bürgerin« nachgekommen zu sein. Für den Gegenprotest habe es zudem ein vorab angekündigtes Corona-Konzept gegeben: »Alle haben Masken getragen und, wenn immer es ging, Abstand gehalten.«

Da die Polizei nicht festgestellt hatte, wo und wie genau der Mindestabstand nicht eingehalten worden sein soll, ist für den Richter der Fall klar: Nach nur acht Minuten wird das Verfahren eingestellt. Auf ihren Anwaltskosten bleibt die Frau jedoch sitzen.

Wegen derselben Sitzblockade am 3. Oktober sind alles in allem 34 Menschen angeklagt. Die Beamt*innen vor Ort hätten »alles Mögliche« aufgeschrieben, sagt ein Vertreter des Berliner Bündnisses gegen Rechts: Nötigung, Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz, Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, ein »Blumenstrauß aus den verschiedensten Vorwürfen«. Die Polizei habe Ordnungswidrigkeiten eingeleitet, ohne dass konkrete Verstöße vorgelegen hätten: »Wir sehen inzwischen immer öfter, dass der Infektionsschutz gegen unproblematische Demonstrationen in Stellung gebracht wird.«

Die Polizei Berlin habe bereits ein paarmal versucht, Nötigung bei einer Sitzblockade als Straftatbestand durchzusetzen, sagt auch Rechtsanwalt Lukas Theune. Und zumindest bei einer Sitzblockade gegen den rechten »Marsch für das Leben« im September 2019 habe ein Gericht auf Nötigung entschieden. Der Fall geht nun in die nächste Instanz. Denn: »Eine Sitzblockade ist keine Mauer«, so Theune. Eine Nötigung sei daher nicht gegeben.

»Als Nötigung gilt eine Tat, die andere durch Gewalt oder Androhung eines ›empfindlichen Übels‹ zu Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen zwingt«, schreibt das Bündnis gegen Rechts in einer Erklärung gegen die Kriminalisierung von Sitzblockaden. Und weiter: »Wo genau in den oben genannten Fällen die Gewalt oder das angedrohte empfindliche Übel liegt, bleibt jedoch schleierhaft. Was hier delegitimiert und kriminalisiert wird, ist das Engagement für eine solidarische Gesellschaft.«

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Der Vertreter des Bündnisses geht davon aus, dass sowohl die Hohenschönhausen-Verfahren als auch die gegen etwa 100 Aktivist*innen der Sitzblockade gegen den »Marsch für das Leben« auf einen mittlerweile versetzten Oberstaatsanwalt zurückgehen, der 15 Jahre in der Staatsschutzabteilung tätig war und der in Medienberichten als »rechtskonservativ« bis »stramm rechts« beschrieben wird. Der Nötigungsvorwurf bei Sitzblockaden sei in Berlin ein »Novum«, ursprünglich sei das nicht angezeigt worden, solange kein Widerstand geleistet worden sei. »Wir hoffen, dass das jetzt nicht der Standard wird«, sagt der Sprecher. Die Anklagen sollten zurückgezogen und Sitzblockaden als »öffentliches Eintreten und Engagement für eine solidarische Gesellschaft« gewertet werden, so die Forderung.

In dem nun eingestellten Prozess ging es letztlich gar nicht mehr um Nötigung. Anwalt Theune geht davon aus, dass auch die weiteren anstehenden Verfahren alle eingestellt werden: Die Erfolgsaussichten seien »sehr gut«, sofern man das Bußgeld nicht bezahlt. Auch er sagt: »Es darf keine einzige Verurteilung geben.«

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