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Leningrader Siege
Die EM-Stadt St. Petersburg gedachte der Opfer des deutschen Vernichtungskrieges. Auch der Fußball half, als die Stadt von der Wehrmacht 900 Tage belagert wurde
Der Hunger. Die Kälte. Die Angst. Und der süße Geschmack des Sieges: Issaj Moisejewitsch Kusinez war noch ein kleiner Junge, als die Wehrmacht Leningrad umstellt hatte und auf jeden schoss, der aus der hungernden Stadt herauszukommen versuchte. An die Entbehrungen während der Leningrader Blockade kann er sich indes noch genau erinnern. An die Einsamkeit in der Wohnung, wenn seine ihn Mutter - Sanitäterin der Roten Armee - verließ, um im Krankenhaus die verwundeten Soldaten zu pflegen. An die klägliche Tagesration: 125 Gramm Brot. An die Tränen der Mutter, als sie feststellte, dass die Essensscheine für den ganzen Monat verloren waren. An die Erleichterung, als Nachbar Sascha, dem als Arbeiter 250 Gramm zustanden, ihnen einen Monat lang die Hälfte seiner kargen Brotration abgab. Und an den süßen Geschmack der Befreiung: »Eines Tages brachte meine Mutter eine gezuckerte Quarkspeise mit nach Hause«, so schwärmt Issaj Moisejewitsch heute. »Ich weiß noch, wie ich sie begierig hinunterschlang, es schmeckte besser als Schokolade. Erst später begriff ich, dass das der Tag gewesen sein muss, an dem wir die Deutschen in die Flucht geschlagen hatten.«
Leningrad und der Heldenmut seiner Bewohner während dieser 28 Monate andauernden Blockade! 1,1 Millionen Tote, die meisten erfroren und verhungert, und doch fiel die Stadt dem Feind nicht in die Hände. Der einzige Versorgungsweg führte über den Ladogasee, das reichte nicht aus, um die Millionenstadt zu versorgen.
Die Russen pflegen die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg inständig, der heroische Sieg über Hitlerdeutschland ist eine der Haupterzählungen auch im modernen Russland. Und Menschen wie Kusinez sind ihre Protagonisten: 83, wacher Blick unter buschigen schwarzen Augenbrauen, ein kleiner, drahtiger Mann, dem man schon am Gang ansieht, dass er seit Jahrzehnten eine Uniform trägt - die der Baltischen Flotte. Seine Brust ist bedeckt mit Abzeichen, Orden und Ehrenschleifen. Das Abzeichen, das Leningrads überlebenden Schülern für ihren Mut verliehen wurde, fehlt allerdings. Kindergartenkinder bekamen damals keins, sagt er.
»Aber eine andere Geschichte: 1945 kam eine neue Erzieherin in den Kindergarten. Ich kannte sie nicht, aber als sie mich sah, fing sie an zu weinen: Sie kannte mich. Ich war das einzige Kind aus ihrer früheren Gruppe, das überlebt und das sie je wiedergesehen hatte. Sie griff in ihr Portemonnaie und schenkte mir 25 Rubel, damals eine Menge Geld.«
Wann immer er kann, berichtet der ehemalige Militärhistoriker heute der nachfolgenden Generation von damals. Issaj Moisejewitsch Kusinez ist Vorsitzender der Öffentlichen Vereinigung der Petersburger Veteranen. Und er findet, auch die Besucher der Europameisterschaftsspiele in St. Petersburg sollten sich nicht nur Eremitage, Blutskirche und Kasaner Kathedrale anschauen, sondern auch das Blockademuseum gleich hinter dem beliebten Sommergarten.
Dort im Staatlichen Museum der Verteidigung und Belagerung von Leningrad hängen nämlich ein paar Fotos von mythischen Fußballspielen, mit denen der Widerstandsgeist der hungernden Bewohner beschworen werden sollte: Das 7:3 von Dinamo Leningrad gegen die Mannschaft der Baltischen Flotte am 6. Mai 1942. Oder ihr 6:0 gegen die Auswahl der Leningrader Metallfabrik am 31. Mai 1942.
»Bis heute ist unklar, wie viele Zuschauer dabei waren«, sagt Veteran Kusinez. »Sicher ist aber, dass einige Spieler direkt von der Stadtfront geholt wurden. Manche sollen auf dem Spielfeld vor Erschöpfung zusammengebrochen sein.« Doch den Leningradern hätten diese Fußballspiele Mut gemacht. Ja, die Spiele seien in einer Reihe zu nennen mit der legendären 7. Sinfonie, die der Leningrader Dimitri Schostakowitsch, zum Anfang der Belagerung noch in der Stadt weilend, komponiert hatte. Die Erstaufführung in der Heldenstadt 1942 wurde in der ganzen Sowjetunion im Radio übertragen und soll per Lautsprecherwagen auch in den Schützengräben der alten Zarenstadt erklungen sein.
Am Dienstag beging man in ganz Russland den Tag der Erinnerung und Trauer. Der Feiertag war ein besonderer, 80 Jahre nach dem hinterhältigen Überfall der Faschisten auf die UdSSR, der bis 1945 27 Millionen Sowjetmenschen das Leben kosten sollte. Im ganzen Land wurden um 23.15 Uhr von jungen Menschen gigantische Bilder aus Tausenden Kerzen entzündet. In St. Petersburg trafen sie sich zu Hunderten am Marsfeld. In aller Stille entzündeten sie die Kerzen, später tanzten sie zu leiser Musik Walzer. Aus dem Stadtzentrum wurden 30 000 Watt starke Scheinwerfer gen Himmel gerichtet. Vor acht Jahrzehnten zeigten sie an, dass Luftangriffe bevorstehen, anno 2021 gemahnten sie nur noch an die Schrecken des Krieges.
Gibt es eine Erkenntnis aus den Jahren der Blockade in Ihrer Familie, Issaj Moisejewitsch? »Ja«, sagt der alte Mann mit fester Stimme: »Es waren schreckliche Zeiten, unvorstellbares Leid, für jeden Einzelnen. Aber es haben nicht die überlebt, die nur an sich dachten, nicht die Egoisten. Es überlebten jene, die weiterarbeiteten, die anderen halfen. die Waffen produzierten in unseren Fabriken. Wir waren keine Stadt des Überlebens, wir waren eine kämpfende Stadt.«
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