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Halbherzig und tatenlos

Experten fordern Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht und kritisieren die Bundesregierung

Wer in Deutschland einmal arm ist, bleibt dies immer häufiger dauerhaft, insgesamt verfestigt sich die Armut Jahr für Jahr weiter. So können die Ergebnisse vom sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zusammengefasst werden, der im Mai das Kabinett passiert hatte. Doch welche Schlüsse werden aus dem Bericht gezogen, welche politische Konsequenzen folgen aus ihm? Darüber diskutierten letzte Woche Expertinnen und Experten im Sozialausschuss des Bundestags. Während sich so gut wie alle einig darüber waren, dass gegengesteuert werden müsse, tat sich nur der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit einer recht eigensinnigen Interpretation hervor. Laut BDA-Vertreterin Renate Hornung-Draus sei die Einkommenverteilung in den letzten Jahren stabil geblieben, die Vermögensungleichheit sogar leicht gesunken. Es gebe eine positive Faktenlage und das Problem sei eine »verzerrte Wahrnehmung« davon, dass eine Polarisierung zwischen armen und reichen Menschen stattfinde, was nicht stimme.

Die gute wirtschaftliche und konjunkturelle Entwicklung habe nicht zu einem Sinken der Ungleichheit geführt, fasst hingegen Birgit Fix, Referentin für Armuts- und Arbeitsmarktfragen beim Deutschen Caritasverband, den Bericht zusammen. Auch Markus Promberger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit erklärte, dass niedrige Einkommen weiter sinken, während höhere Einkommen stiegen. »Es gibt also eine Art Schere«, stellte Promberger fest und forderte im Sozialausschuss des Bundestags dazu auf, auf die unteren Einkommen »aufzupassen«, damit niemand abgehängt werde.

Der frühere Generalsekretär der Caritas Georg Cremer schlug vor, der nächste Armuts- und Reichtumsbericht solle die sogenannte verdeckte Armut stärker in den Fokus nehmen. Darunter fallen alle Menschen, die ein so geringes Einkommen und Vermögen haben, dass sie eigentlich ein Anrecht auf Sozialhilfe hätten, die es aber aus Unwissenheit oder auch aus Scham nicht in Anspruch nehmen. Der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) formulierte etwas drastischer einen dringlichen politischen Auftrag, um wirksame Maßnahmen gegen Armut und soziale Ausgrenzung umzusetzen. Laut dem AWO-Vertreter Valentin Persau erwarte die Mehrheit der Menschen eine gerechtere Besteuerung. Das »Sicherheitsversprechen des Sozialstaates« müsse erneuert werden.

Joachim Rock vom Paritätischen Wohlfahrtsverband stellte die Bedeutung der Überwindung des Hartz-IV-Systems in den Vordergrund. Es schütze nicht vor Armut. Ruxandra Empen vom Deutschen Gewerkschaftsbund kritisierte die Ausgestaltung des Armuts- und Reichtumsberichts. Zum Thema prekäre Beschäftigung und Arbeitslosigkeit würden tiefergehende Analysen fehlen.

Auch der Bundestag debattierte am vergangenen Freitag über den Bericht. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) lobte die Corona-Hilfspakete der Bundesregierung und forderte »aus technischem Fortschritt auch sozialen Fortschritt zu machen«, damit aus Deutschland eine »Weiterbildungsrepublik« werde. Die Oppositionsparteien bemängelten hingegen, dass die Bundesregierung zu wenig Einsatz im Kampf gegen die soziale Ungleichheit zeige.

Der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Pascal Kober kritisierte etwa, dass in Armut lebende Kinder sich vor Gericht einen Laptop fürs Homeschooling erklagen mussten. Er forderte, dass »der Aufstieg in die Mitte der Gesellschaft bei der nächsten Regierung wieder stärker im Zentrum der Sozialpolitik stehen muss«. Über den Weg dorthin gebe es allerdings noch einigen Redebedarf, erklärte er mit Bezug auf Forderungen der Grünen und Linken nach höheren Ausgaben.

»Wenn man den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liest, könnte man meinen, es ist alles halb so schlimm. Wieder einmal haben sie diesen Bericht geschönt, damit er auch in ihr Bild passt«, kommentiere Sabine Zimmermann von der Linken den Bericht. Die Armen seien während der Pandemie immer ärmer geworden, von den Haushalten unter 2000 Euro Nettoeinkommen habe jeder Zweite ein Viertel seines Einkommens verloren. Der Grünen-Abgeordnete Wolfgang Strengmann-Kuhn sprach von einem konstanten Rekordniveau der Armut in Deutschland und stellte fest: »Die Grundsicherung reicht nicht aus, um Armut zu verhindern.« Sämtliche Anträge für Maßnahmen, die aus dem Armuts- und Reichtumsbericht folgen könnten, beispielsweise die Einführung einer Kindergrundsicherung oder einer sanktionsfreien Mindestsicherung, wurden mehrheitlich abgelehnt.

Anlässlich der Bundestagsdebatte machte das Deutsche Kinderhilfswerk darauf aufmerksam, dass der sechste Armuts- und Reichtumsbericht die Tatenlosigkeit bei der Bekämpfung von Kinderarmut zeige. »Dass das Wort Kinderarmut im Bericht selbst nur einmal, und dann in einer Fußnote vorkommt, steht stellvertretend für die fehlende tiefergehende Auseinandersetzung mit den kindspezifischen Auswirkungen und Sichtweisen auf Armut im Bericht«, so Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Kinderhilfswerkes. »Wir dürfen uns die bisherige Halbherzigkeit nicht weiter leisten.«

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