Für Papy und sich selbst

Mathieu van der Poel verhilft der Tour de France zu Emotionen, Qualität und Geschichtsbewusstsein

  • Tom Mustroph, Laval
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein gelbes Trikot hatte der kleine Mathieu bereits im Hause. »Mein Vater hat eins, 1984 errungen bei der Tour de France. Er hatte es auf dem Dachboden in einem Karton, und es ein- oder zweimal ausgepackt«, erzählte Mathieu van der Poel, als er selbst mit einem bekleidet war. Wer weiß, ob er das von Papa Adrie mal heimlich anprobiert hatte, aber dieses hier war das erste, das er selbst erobert hatte. Inzwischen hat Mathieu van der Poel schon vier davon. Schließlich verteidigte der junge Niederländer die Führung in der Gesamtwertung auch im Zeitfahren am Mittwoch.

Geschichte schrieb der Tourneuling aber bereits mit seinem ersten gelben Leibchen. Denn er erfüllte damit einen Pakt mit dem Schicksal. Mathieus Großvater, der Franzose Raymond Poulidor, stand einst ganze acht Mal auf dem Treppchen bei der Siegerehrung der Tour de France in Paris. Gesamtsieger wurde er aber nie. Also ging Poulidor irgendwann als »Ewiger Zweiter« in die Annalen der Rundfahrt ein, der zudem kein einziges Gelbes Trikot erobert hatte. Nicht mal einen Tag trug er es, trotz sieben Etappensiegen und drei zweiten Plätzen im Gesamtklassement.

Bei der Tour de France anno 2021 holte Enkel Mathieu van der Poel das nun nach. 26 Jahre alt ist van der Poel bei seinem Tourdebüt - im gleichen Alter wie der Großvater einst bei seinem. Eng verbunden sind sie. »Ich will wie Papy sein«, ist von ihm überliefert. »Papy«, so nannte er seinen Opa. Und ihm ähnlich sein wollte er vor allem in der Art, wie er auf Menschen zugeht. Denn Poulidor war immer nahbar, der Mann des Volkes, der das Volk auch suchte.

Noch Jahrzehnte nach der Karriere signierte er bei der Tour Autogrammkarten und redete mit seinen Fans. Poulidor nahm dabei meist in jenem Pavillon Platz, der vom Sponsor des Trikots aufgestellt worden war, das er selbst nie hatte tragen dürfen. Ihm brach nicht das Herz dabei - er nahm den Widerspruch lachend hin.

Vor vielen Jahren, der Enkel war da schon Juniorenweltmeister, sagte Poulidor zu »nd« über seinen Enkel: »Eines Tages kann er das schaffen, was mir niemals vergönnt war. Er kann die Tour de France gewinnen.« Weil der weißhaarige Herr dies nicht nur dieser Zeitung sagte, legte sich früh der Erwartungsdruck auf Mathieu van der Poel. Der ließ sich davon trotzdem nicht beirren. Er fand einen ganz cleveren Ausweg, wich ins Gelände aus, zu den Cyclocross- und Mountainbike-Rennen. »Ich liebe das. Es ist viel abwechslungsreicher, man kann mehr Initiative zeigen, muss explosiver sein. Es gewinnt auch immer der Stärkste«, sagte er einst - und fügte an: »Straßenrennen langweilen mich eher.«

Weil hier aber mehr Aufmerksamkeit zu erzielen und mehr Geld im Umlauf ist - und es für van der Poel nach vier Cyclocross-Weltmeistertiteln langweilig wurde, im Gelände immer zu gewinnen -, widmet er sich seit drei Jahren doch verstärkt der Straße. Auch hier mit Erfolg: Er gewann die Eintagesklassiker Amstel Gold Race 2019, Flandernrundfahrt 2020 und Strade Bianche 2021.

Die Krönung gelang ihm dieser Tage bei der Tour, als er am Montag als Schnellster die Mûr-de-Bretagne erklomm und sich den Tagessieg und das Gelbes Trikot holte - im besten Stile der 60er und 70er Jahre. Bereits bei der ersten Überfahrt über die steile Rampe attackierte er, sicherte sich Bonussekunden. Als alle dachten, er hätte sich damit verausgabt, attackierte er bei der zweiten Überfahrt erneut und gewann. »Er hat einfach den Körper dafür. Er kann mehrfach beschleunigen. Die Cyclocross-Rennen kommen ihm hier zugute«, sagte Christoph Roodhooft, Trainer und Manager van der Poels, zu »nd«.

Sein Schützling streckte auf der Zielgeraden den Finger gen Himmel. Es war ein Gruß an den vor 19 Monaten verstorbenen »Papy« Poulidor. »Ich habe das Trikot für ihn geholt«, sagte er danach, und die Emotionen übermannten ihn.

Massenstürze statt Corona. Die Radsportler waren voller Vorfreude auf die Rückkehr der Fans zur Tour de France. Die verflog schnell

Natürlich hatte er es aber auch für sich geholt, als Bestätigung für sich selbst. Mathieu van der Poel hat sich von der Historie emanzipiert und kann nun ungestört seinen eigenen Weg weitergehen. Und der beinhaltet etwas, was der Opa nie gemacht hätte: Van der Poel wird diese Tour wohl nicht bis zum Ende in Paris fahren. Statt der Champs-Élysées lockt ihn der Fujijama. Am Fuße des Vulkankegels findet das Olympische Mountainbike-Rennen statt.

Dort will er nicht »den Poulidor machen« - das ist im Französischen das Synonym für Zweiter werden. Gefragt danach, was als »den van der Poel machen« in den Sprachgebrauch eingehen sollte, meinte das Multitalent nur: »Es steht für einen, der das verfolgt, was er will, und der darin auch Erfolg hat.« Vielleicht kommt da eines Tages sogar der Toursieg. »Wenn sich Mathieu das vornimmt und alles darauf ausrichtet, dann kann er das auch schaffen«, sagte Vater Adrie.

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