Sozialistisch arbeiten, lernen und leben

Sozialismus und Lebensleistung: Anmerkungen zu einer nicht geführten Debatte zwischen Ost und West

  • Detlef Kannapin
  • Lesedauer: 7 Min.

An den in den letzten Jahrzehnten immer wieder einmal hochkochenden sogenannten Ost-West-Debatten sind zwei Dinge auffällig. Erstens: Es gibt kein echtes Gespräch zwischen Ost und West; eine richtige deutsch-deutsche Diskussion hat seit 1990 nicht stattgefunden. Zweitens: Es wird über alles Mögliche schwadroniert, aber der Kern der Sache konsequent ausgeblendet: der Sozialismus. Zwar genügt normalerweise ein Blick in die früheren Lehrbücher der Politischen Ökonomie und in die Schriften Lenins, um diesen Zustand nicht überraschend zu finden. Aber es ist immer besser, die Gründe noch einmal kondensiert aufzuführen, um nicht als ununterrichtet zu gelten.

Warum nun zunächst kein echtes Gespräch? Ein solches wäre nur auf Augenhöhe zu führen, und dafür fehlen seit der »Wende« die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen beziehungsweise schlicht auf der einen Seite der staatliche Hintergrund. Solange die DDR existierte, war die BRD wohl oder übel gezwungen, den eigentlich uninteressanten Brüdern und Schwestern hinter dem Eisernen Vorhang, wenn auch nur vorgeheuchelten, Respekt zu erweisen. Der Staat im Rücken der DDR-Bürger war, obgleich offiziell vom Westen nicht anerkannt, Garant für die Wahrnehmung des Gesprächspartners, dem gegenüber man zumindest die Etikette zu wahren hatte. Dann konnte man reden. Ein Vergleich der Fernsehfilme »Besuch aus der Zone« (BRD 1958) und »Besuch aus der Ferne« (DDR 1966) zeigt die Argumentationsmuster der Zweistaatlichkeit im Rückblick sehr schön, eben als von den jeweiligen Staaten mit Maßnahmen der Legitimität unterstützt. Beide Seiten hätten ja Erfahrungen und Ergebnisse für sich, wenn sie denn nur ernst genommen würden. Das fiel nun mit dem Aufgehen in einem einzigen Gemeinwesen weg.

Delegitimierung des DDR-Sozialismus

In genau jener Sekunde, als das Schein-Parlament der »Wende«, am Willen der Bevölkerung der DDR vorbei, im August 1990 den westlichen Königsweg der »Einheit« beschloss, kamen die westdeutschen Platzanweiser daher (in Texten und Evaluationskommissionen) und beschieden ihren Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten, womit sie sich im Folgenden und dauerhaft zu beschäftigen hätten: mit der Frage, warum und in welchem Maße alle in der DDR Denkenden das eigene System nicht bürgerlich durchschaut hätten und welche Schuld wer in welchem Umfang dafür auf sich zu nehmen hätte. Merkwürdigerweise (oder vielleicht auch nicht) hielten sich alle daran, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit wahrgenommen werden wollten (von Osang über Schulze bis Dahn, von Lengsfeld über Tellkamp und Geipel bis Steimle). Alle haben ihren Platz, aber alle reden nur unter sich und über sich. EU-Kommission, Bundestag, Deutsches Institut für Wirtschaft, AEG, Siemens, Bertelsmann und Nestlé haben ja auch keinen Bedarf, sich über Erfahrungen auszutauschen. Geschichte wiederholt sich nicht, ist entweder »Quatsch« (Henry Ford) oder muss entsprechend zugerichtet werden. Darin hat der Sozialismus natürlich keinen Platz.

Die späte DDR hat es dem Klassengegner aber auch zu leicht gemacht, das Projekt der Delegitimation jeglicher Sozialismusvorstellungen in die Tat umzusetzen. Die unglückliche Formulierung der Honecker-Ära vom »real existierenden Sozialismus« (der Widersinn stellt sich bei den Komplementen »irreal existierend« oder »real inexistent« ein) verband sich mit Versäumnissen der Bewusstseinspflege, auf dass die noch 1968 so beherzt über die eigene Verfassung diskutierenden Staatsbürger eine Generation später die Aufbauleistungen als selbstverständlich nahmen und meinten, sich keine Mühe mehr geben zu müssen. Und dann wunderte man sich plötzlich (ja, auch Volker Braun), dass die Staatsbürgerkunde-Unterrichtsstunden doch nicht ganz daneben lagen in der Interpretation der Grundzüge des Kapitalismus.

Irrtum der Staatsängstlichkeit

Während der rechte Diskurs naturgemäß jede gesellschaftliche Verbesserung für Teufelswerk hält, versucht der verbliebene Rest des wahrnehmbaren linken Diskurses den DDR-Sozialismus als sogenannten Staatssozialismus abzuqualifizieren. Dahinter steht das Motiv, demokratische Verhaltensweisen als einzig mögliche für den Übergang zum solidarischen Gemeinwesen zu beschreiben. Dabei wird, neben vielem anderen, das Wesentliche vergessen: Ohne Staat kein Sozialismus. Bevor die Demokratie eingeführt werden und der Kommunismus etwas absterben lassen kann, muss doch immer noch (siehe Lenin) der alte Staatsapparat zerschlagen werden, um mit dem neuen, unverbeamteten Funktionsleistungen zur Einführung und Sicherung des Sozialismus zu erfüllen. Wer soll denn sonst anweisen und gerecht verteilen, wenn nicht der Staat?

Der Dramatiker Peter Hacks hat dies auf den Punkt gebracht, als er schrieb: »Die Grundüberzeugung des Revolutionszeitalters ist, dass das Absterben des Staates nicht auf dem Wege seiner ständigen Entkräftung, sondern allein auf dem Wege seiner ständigen Vervollkommnung zu erzielen sei - wobei wir unter ›Vervollkommnung‹ ganz gewiss wollen das Gegenteil von Aufblähung verstanden haben. Der Staat, so wurde und wird immer wieder entgegnet, solle doch besser nicht jede Einzelheit regeln. Aber was der Staat nicht regelt, regeln andere. Der Irrtum der Staatsängstlichen besteht in der Annahme, dass, wo der Staat nicht ist, die Freiheit sein müsse. In Wirklichkeit sind dort die Böcke, die dort die Gärtner sind.« Das war 1988, im ersten Teil seiner Schrift »Ascher gegen Jahn«. Kein Anarchist, Freiheitsliebender oder Aussteiger könnte ohne staatliche Maßnahmen überleben, spätestens wenn er sich an den Kalender halten muss. Man bedenke zudem die Aufgaben der Zukunft: Klimawandel, Produktionsumstellungen, Technologiegebrauch und Informationsinfrastruktur. Es kommt auf den Charakter des Staates und seine Eigenschaften, nicht auf seine Abwesenheit an.

Was den Sozialismus betrifft, hatte Hacks im zweiten Teil seiner Arbeit über den Kampf zwischen Fortschritt (Saul Ascher) und Reaktion (Friedrich Ludwig Jahn) ein Jahr später noch etwas mitzuteilen: »Das Angenehme am Sozialismus ist, dass wir den Staat nah erleben. Der sozialistische Mensch erwacht in seiner staatlichen Wohnung, schaltet das staatliche Licht ein, frühstückt einige staatliche Semmeln und fährt mit der staatlichen Bahn zu seiner staatlichen Arbeit, während die sozialistischen Kinder sich in den staatlichen Kindergarten oder die staatliche Schule begeben. Anschließend erholen sich alle vor dem staatlichen Fernsehen; selbst die Zierfische und die Kaninchen werden in staatlichem Zusammenhang gezüchtet. Es ist angesichts dieses Verstaatlichungsgrades sinnlos, in einem neuzeitlichen Gemeinwesen dem Widerspruch zwischen Staat und Gesellschaft länger nachzuspüren. Er hat sich wirklich erledigt.« Und also auch der Begriff Staatssozialismus, der in seiner abwertenden Verwendung die DDR mit diskreditiert, um bloß nicht darauf verweisen zu müssen, dass, wer den Staat nicht will, auch den Sozialismus nicht will.

Das Allerverwickeltste ist, dass der Kapitalismus ebenso genau weiß, dass er ohne seinen Staat nicht überleben kann. Nahezu alle Entscheidungen zur logistischen Erhaltung der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweise werden staatlicherseits getroffen, von der Marktregulation bis zur Preissetzung. Es ist also entscheidend, welcher Staat welche Zielsetzungen in die Praxis überführt. Hacks behauptet nicht, dass ein Staat freundlich, entgegenkommend, gar progressiv sein müsse. Die Haupteigenschaften des Staates sind Gleichgültigkeit und Duldung, aber diese sind mit Vernunft einzusetzen - nicht mehr und nicht weniger ist verlangt.

Lebensleistung der Ostdeutschen

Somit sind wir bei den Lebensleistungen der Ostdeutschen. Diese sind nicht trotz, sondern wegen des Systems zustande gekommen. Ohne führende Partei, Plan, Bildungsrevolution und staatliche Fürsorge kein Aufbau, keine Enthierarchisierung der Klassenverhältnisse, keine Aufstiegschancen für Unterprivilegierte und so weiter. Die Anerkennung von Lebensleistungen in der DDR ist ohne Anerkennung der sozialistischen Ausgestaltung der Gesellschaft undenkbar, allerdings müssen sie aus Westsicht notwendigerweise abgewertet werden, weil ansonsten das eigene System in definitive Legitimationsprobleme gerät. Was sollte ernsthaft der Vorteil davon sein, in großen Abschnitten seines Lebens über Preisnachlässe, Steuerermäßigungen und Krankenkassenbeiträge nachdenken zu müssen, wo es doch sicher wertvoller wäre, mal eine unbegrenzte Zeit ohne materielle Sorgen über »Faust II«, Hegel oder meinetwegen auch über Gott und die Welt nachzusinnen? Die praktischen Beschwernisse des Alltags waren in der DDR auf der Reproduktionsebene durchaus minimiert. Was fehlte, war ein genaues Austarieren der dialektischen Einheit aus »Arbeite mit, plane mit, regiere mit!« und »Privat geht vor Katastrophe«, und zwar vonseiten des sozialistischen Staates, der am Ende immer schwächer wurde, weil schon erreichte Standards weder gehalten noch weiterentwickelt wurden.

Kurzum: Das Plädoyer für die Anerkennung von Lebensleistungen der Bürgerinnen und Bürger der DDR kann nur mit dem Plädoyer für die Errungenschaften und Vorteile des dortigen Sozialismus glaubwürdig vertreten werden. Das schließt zwingend die produktive und progressive Erinnerung an die DDR ein - und alle Ablehnung des Gesamtzusammenhanges DDR (von ihrer Entstehung bis zu ihrer Selbstabschaffung durch Fahrlässigkeit im Klassenkampf), bei notwendiger Kritik im Einzelnen (man will ja besser werden), macht die Wiedereinführung des Sozialismus auf deutschem Boden mit zunehmendem Abstand unmöglich.

Über die Lebensleistungen der Ostdeutschen informiert man sich immer noch am besten mittels der überlieferten Film- und Tondokumente aus DDR-Zeiten, in denen sich Mentalitäten, Werte, Einstellungen und Motive im Sozialismus von auch ästhetisch ansprechender Warte aus begutachten lassen. Das ist das archivalisch unbestechliche Bollwerk gegen systematische Wissensvernichtung, die Unkundige produziert. Der Sozialismus will eine Gesellschaft von Kundigen, nicht eine von Kunden.

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