Die Wende vor der Wende

50 Jahre Übergang vom Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung zur Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik: Der VIII. Parteitag der SED und der Kampf der drei Linien in der DDR

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 7 Min.

Jede Epoche hat ihre Lieblingsgeschichten; Motive, in denen sie sich besonders gut wiedererkennt. Das bürgerliche Zeitalter etwa bevorzugt auf seinen Bühnen, Bildschirmen und Papierseiten das Motiv vom saturierten Herrscher, der in Konflikt mit einem fortschrittlicheren Thronfolger gerät. Etabliert ist hier gleich überholt, neu gleich fortschrittlich. Die Beliebtheit dieses Motivs ergibt sich aus dem Einverständnis von Künstlern und Publikum, die dieselbe gesellschaftliche Wirklichkeit erleben, in der Fortschritt fast stets von unten kommt und den vorhandenen Einrichtungen abgenötigt werden muss.

Richtungswechsel beim Parteitag

Der Sozialismus hat das eine Zeit lang verkehrt. Hier trafen eher Könige voll Elan auf Nachfolger, die gesättigt schienen, noch ehe sie in Griffweite des Zepters gelangten. Einmal muss die Revolution von unten kommen - vermittels Kollaps, Klassenkampf, Gewalt oder Krieg. Doch nach Gründung der sozialistischen Gesellschaft wurde sie zum Geschäft von oben, während das, was ab dort von unten kam, Inhalt und Zwecke der Revolution meistens angriff.

Das gilt für viele Palastrevolten, die von Nagy, Dubček, Breschnew oder Gorbatschow. Es gilt auch für jene, die Erich Honecker gegen Walter Ulbricht und das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖS) angezettelt und durch den VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 betoniert hat. Während die Erstgenannten aber mit etwas Mühe noch rationalisiert werden können, als falsche Antwort auf eine Krise, haftet dem Aufstand Honeckers kaum Objektives an. Ulbrichts Politik war gerade nicht eitel durch Einseitigkeit, sondern der ernsthafte Versuch, alle inneren, einander widersprechenden Tendenzen der sozialistischen Gesellschaft in eine Gesamtordnung zu bringen. Dieses System konnte zu der Zeit, da man es abschaffte, nicht als gescheitert oder widerlegt angesehen werden, es blieb der wirtschaftlich erfolgreichste Abschnitt der DDR-Geschichte.

Gewiss war gegen Ende der 1960er Jahre eine schwierige Lage entstanden, nur scheint die zum einen hausgemacht, durch verdeckte Bremsarbeit in Moskau und intern durch die Gruppe um Mittag, Lamberz und Honecker. Die Kritiker wiesen auf Schwierigkeiten, die vor allem sie selbst hervorgerufen hatten. Zum anderen nahm sich auch diese Lage um 1970 noch deutlich besser aus als die um 1962, vor dem Beginn der Reformen, oder die der Jahre ab 1971, nach deren Ende.

Honecker und der Anfang vom Ende

Was Honecker antrieb, ist nicht leicht zu rekonstruieren. War es bloß Ambition, bleibt gleichwohl unbestreitbar, dass er sich ein im Parteiapparat verbreitetes Unbehagen zu Nutze machte. Dieses Unbehagen sollte man nicht als Dummheit wegsortieren. Von ihm aus lässt sich auf einen wesentlichen, den Sozialismus konstituierenden Widerspruch kommen. Der VIII. Parteitag setzte einen Kurs ins Werk, an dessen Ende das Ende stand. Der Parteitag war der Anfang dieses Endes, die - in den Worten von André Müller sen. - »Wende vor der Wende«.

Um diesen Anfang vom Ende zu verstehen, muss man an das Ende vom Anfang zurück. Das NÖS ist nicht aus Lust am Experiment entwickelt worden, sondern aus Not. Auch wenn durch die Grenzschließung im Jahr 1961 die massenhafte Abwanderung von Arbeitskräften gestoppt werden konnte, blieben der Arbeitskräftemangel strukturell und die Kaufkraft der Bevölkerung permanent über dem produzierten Angebot. Der Versuch, diesen Rückstand mittels Aktivitätskampagnen (»Produktionsaufgebot«) zu mindern, schlug fehl und führte gar noch zu wachsendem Unmut.

Ende 1962 begann man, inspiriert durch Überlegungen des sowjetischen Ökonomen Libermann, über die Nutzung »materieller Interessiertheit« nachzudenken. Ideologisch beruhte das auf der vielleicht etwas einfach gedachten Identifikation von Einzel- und Allgemeininteresse, doch im Arbeitsalltag wirkte es entlastend wie auch fördernd. Statt den Leuten zu erklären, dass sie bei gleichem Lohn mehr zu arbeiten haben, schuf man eine Lage, in der nicht nur ein Interesse an bloß quantitativer Erfüllung von Planvorgaben, sondern zugleich an Entwicklung von Qualität entstehen muss. Gewinn wurde zum Ziel der Produktion, selbstständige Rechnungsführung eingeführt, Wettbewerb entfaltete sich. Die einzelnen Betriebe blieben an die zentrale Planung gebunden, agierten aber innerhalb dieses Rahmens frei.

Selbstständigkeit der Produzenten ist der Kern jeder Warenproduktion, somit auch der kapitalistischen. Eine relative Selbstständigkeit wie im NÖS macht noch keinen Kapitalismus, sie wird aber zum Schritt in dessen Richtung und weg von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Der Begriff der Planung bereitet hier weniger Sorgen. Wenn Planung bedeutet, bestimmte Ziele durch vorauslaufende Berechnung möglichst effektiv und vollständig zu erreichen, muss das NÖS als höhere Form der Planung verstanden werden. Doch auch das schafft nicht aus der Welt, dass hier ein Sozialismus konsolidiert wurde, indem man den Prozess der Vergesellschaftung bremste.

Schon deswegen sollte die Stimmung, die sich beim VIII. Parteitag Ausdruck gab, nicht einfach als Mangel an Begriff zu den Akten gelegt werden. In ihr wirkte eine berechtigte Sorge von Genossen, die die Gefahr einer kapitalistischen Restauration sahen. Es ist aber eine Sache, sich der Gefahr bewusst zu sein, die in der Handhabung eines vorhandenen Widerspruchs liegt, und eine ganz andere, die viel größere Gefahr zu riskieren, indem man ihn einseitig auflöst.

Primat der Politik oder der Ökonomie?

Der Gegensatz von Ulbricht und Honecker war gerade nicht der zwischen zwei einander ausschließenden Prinzipien (wie etwa bei Nowotny und Dubček), sondern der zwischen einer Mitte und ihren zwei, sich gegen sie verbindenden Abweichungen. Die Honecker-Leute brachten es fertig, sich einesteils als die orientierteren Kommunisten zu inszenieren, die dem revolutionären Ziel die Treue halten. Zum anderen förderten sie einen Kleine-Leute-Sozialismus, der persönlichen Konsum sehr hoch hängte, Sekundärbedürfnisse immer seltener hinterfragte und sukzessive das Denk- und Wertesystem der spätbürgerlichen Gesellschaft übernahm.

Desgleichen zeigen sich - damit es nicht zu einfach wird - im Kampf, den Ulbricht und Honecker seit 1965 führten, jene zwei Linien, die auch den Streit Mao gegen Liu kennzeichneten, der zur selben Zeit in der Volksrepublik China tobte: Primat der Politik oder Primat der Ökonomie. Dieser Kampf ist kein anderer als der zwischen Zweck und Mittel.

Und der wiederum gleicht - wie gesagt: es soll nicht zu einfach werden - dem Zusammenhang von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, mit dem Unterschied, dass diese Begriffe bei Marx eine ökonomische Entwicklungslogik konstituieren, als Form und Material gesellschaftlicher Transformation (wie im Vorwort zur »Kritik der Politischen Ökonomie« beschrieben). Produktionsverhältnisse jedoch haben politischen Charakter, Produktivkräfte sind politisch indifferent. Das Politische enthält humane, sittliche Zwecke. Die treten dem Ökonomischen gegenüber und sind mehr als bloß dessen Entwicklungsformen. Kommunisten vergesellschaften nicht vor allem, weil die Produktivkräfte es verlangen, sie tun es, um die Gesellschaft humaner, friedlicher, gerechter zu machen.

Das unerreichte Ziel

Die auf dem VIII. Parteitag proklamierte »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« bedeutete nun nichts anderes als die Reaktivierung des Primats der Politik: Verstaatlichung der Produktion wurde vorangetrieben, die erwirtschafteten Mittel schneller in die individuelle Konsumtion geführt. Das Ziel des Kommunismus sollte wieder greifbar scheinen, und die Menschen durch gesteigerten Pro-Kopf-Verbrauch zufriedengestellt werden. Gewissermaßen versuchte Honecker, seinen Vorgänger zugleich links und rechts zu überholen. Das klappte vorzüglich, wenn man mal vom Überholen absieht.

Das NÖS-Jahrzehnt hatte den Lebensstandard gehoben, aber nicht in dem Maße, wie die Wirtschaft gewachsen war. Ein stattlicher Teil des Gewinns wurde für die technische und ökonomische Entwicklung zurückgehalten. Wenn Honecker dann mehr Geldmittel auf die Stimulation individuellen Konsums verwendete, musste das zulasten der Akkumulationsrate gehen. Das Verhältnis von Investition und Konsum geriet aus dem Gleichgewicht, das Wachstum stagnierte. Man verschleuderte die angereicherte Substanz auf Kosten ihrer Quellen. Also stagnierte am Ende auch der Konsum.

Spätestens zu Beginn der 80er Jahre wurde das für jeden sichtbar. Die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« hatte genau das verhindert, was sie erreichen sollte. Die Politik verlor, weil sie die Macht nicht teilte. Ein Zweck ist machtlos, wenn er sich absolut setzt. Mittel fordern Raum, auch solchen, der dem Zweck widerspricht. Es gibt Umwege, Wege über Bande, Schritte zurück, die in Wahrheit Anläufe für Sprünge nach vorn sind.

Ulbrichts Ziel hatte weder ganz in der Politik noch ganz in der Ökonomie gelegen, er hielt die Balance: Sorge um wirtschaftliche Entwicklung bei beharrlichen ideologischen Kampagnen in der Bevölkerung und wachsamem Umgang mit der Fraktion der Reformer, die große Lust verspürte, den tschechischen Weg einzuschlagen. Immer ging es darum, das langfristige Ziel Sozialismus im Auge zu behalten und dennoch für seine Konsolidierung im Moment zu arbeiten. Im Grunde hatte man in der DDR zwischen 1963 und 1970 die bekannte Stelle aus dem Godesberger Programm vom Kopf auf die Füße gestellt: Planung so weit wie möglich, Wettbewerb so weit wie nötig.

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