Die Luft zum Leben

Die Bankerin Heike Buß gab ihren stressigen Job auf, um in Brandenburg Erholungsuchenden das richtige Atmen beizubringen

  • Christel Sperlich
  • Lesedauer: 7 Min.

Der steile Anstieg des Waldweges ist mühsam. Dazu die spezielle Atemtechnik. Zweimal durch die Nase kurz und ruckartig unangestrengt einatmen und zweimal kurz aktiv über die Nase ausatmen. Die Schultern bleiben dabei ganz entspannt. Dieses ungewohnte Luftschnappen erfolgt synchron im Rhythmus mit der Schrittfolge beim Gehen. Das kräftigt das Herz. Und eventuelles Fiepen im Brustraum verrät, wie begrenzt die Lungenfunktion ist.

Voran geht Heike Buß. Das schwarze, halblang gewellte Haar wippt bei jedem Schritt, den sie geht. In fest geschnürten Turnschuhen, den ledernen Rucksack auf dem Rücken, mit einem Lächeln im Gesicht. Heike Buß hat sich mit einer kleinen Gruppe von Waldläufern auf den Weg gemacht, um »Atem zu schöpfen«. Dazu lädt der Wald im Schlosspark von Bad Freienwalde ein. »Atem schöpfen« unter freiem Himmel, so heißt auch der Gesundheitsweg von gut fünf Kilometern Länge und je nach Puste rund zwei bis drei Stunden Dauer. Das sogenannte Tibetische Energieatmen ist eine Technik, die Wachheit schenkt und das gesamte Lungensystem stärkt.

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Im Landschaftsschutzgebiet nehmen sich die Wanderfreunde nur Zeit für sich. Die verschlungenen Wege wurden schon zu Zeiten von Königin Friederike Luise angelegt. Der Wald ist mit Traubeneichen, Rotbuchen und Nadelmischwald oder auch kanadischer Thuja und Schwarzkiefer angepflanzt. Schon diese zwei Stunden sind bereits jene Zeitspanne, die bei einem Waldaufenthalt, heute auch »Waldbaden« genannt, zu messbaren Effekten für Erholung und Gesundheit führe, meint die Entspannungstherapeutin Heike Buß. »Bei sich ankommen heißt zunächst, den Atem nur wahrnehmen, wie er kommt und wie er geht, absichtslos, ganz von allein. Wir haben hier den Vorteil, dass wir die frische Waldluft einatmen. Das unterstützt die Menschen darin, ihre nährenden Kräfte über den Atem einzusammeln.«

Viele Menschen hätten gerade durch die Corona-Ausnahmesituation den Boden unter den Füßen verloren, seien verängstigt, irritiert, in ein regelrechtes Gefühlschaos geraten, sagt Buß. Als wären sie in eine vergangene Zeit zurückgefallen, die sie wieder eingeholt hat. Das habe oft gar nichts mit Corona zu tun, berichtet die Heilpraktikerin für Psychotherapie. »In dieser Zeit ist bei vielen Menschen seelisch stark Belastendes aufgebrochen, was durch Ablenkung, Shoppen, digitale Mediennutzung oder Events aller Art überdeckt werden konnte. Ängste, Wut, Widerstand zeigen sich jetzt.« Themen wie Angst oder Schuld kämen bei ihren Patienten hoch. »Wenn du die Maßnahmen nicht einhältst, die Maske nicht aufsetzt, dich nicht impfen lässt, steckst du mich an. Oder: Ich habe Oma umarmt, wird sie jetzt sterben?« In derartige Emotionen könne man sich regelrecht reinsteigern, so Heike Buß’ Erfahrung. Deswegen empfiehlt sie gern: Rein in den Wald! Hier kann sich alles naturbedingt sortieren, das Gemüt wird beruhigt, Werte überdacht und die Ausrichtung im eigenen Leben.

Schon Theodor Fontane erkannte »Je freier man atmet, je mehr lebt man.« Im Wald kommen die Menschen zur Ruhe, tanken neue Energien, sehen Dinge noch mal anders, verändern ihre Perspektive, meint Heike Buß. Im Wald eintauchen. Ohne Auto, ohne Wohnwagen. Ganz pur.

In mehreren Etappen wendet sich die Wandergruppe jeweils einem neuen Thema zu. Dadurch, dass sich der Waldbestand fortlaufend ändert, gibt es immer neue Blickpunkte. »Mal streifen wir durch einen Nadelwald, dann durch einen Laubwald oder Mischwald, mal ist er dicht bewachsen, ein anderes Mal stehen wir vor einer Lichtung oder kommen an einer Hütte vorbei. Kein Weg ist immer gleich, jedes Wetter, jede Lichtstimmung, jede Jahreszeit hat ihre Eigenart.

Ein Motto der Atemtherapeutin ist auch: Achtsam gehen, stehen und sehen. Diesen Aspekt des Sehens hat sie mit einer Augenoptikerin entwickelt, mit der sie auch den Atemweg in der Kurstadt Bad Freienwalde gründete. Denn auch die Sehkraft soll durch bewusstes Schauen in der Natur gestärkt werden. Der Blick werde geschärft, ohne sich dabei anstrengen zu müssen. «Es gibt so viel im Wald zu entdecken, obwohl eigentlich gar »nichts los« ist. Dafür aber zahlreiche von der Natur veranstaltete Events: Froschkonzerte. Die Gesänge der einheimischen, auch seltenen Vogelarten. Die Rufe des Kuckucks. Das Klopfen des Spechtes. Das Flattern der Amseln. Das Rauschen des Windes oder das zarte Wehen geschützter Pflanzenarten. Wir fühlen, hören, lauschen. Manchmal ist es einfach nur der Klang der Stille.

Die meisten Teilnehmer*innen seien sehr aufmerksam mit ihren Beobachtungen, nehmen sich selbst wieder wahr. Andere jedoch würden nur schwer einen Zugang zur Stille finden. Aber über den Atem und seine Wirkkraft könne Heike Buß sie gut abholen. »Meist ab der Hälfte des Weges merke ich, dass die Leute beginnen sich zu entspannen, dass sie ruhiger werden, leiser und unaufgeregt sprechen. Die Gruppe wächst zusammen. Es wird Rücksicht aufeinander genommen. Zum Beispiel auf die Personen, die Mühe haben, einen Berg zu ersteigen, die etwas länger brauchen für ihren Weg.«

Heike Buß stammt aus dem benachbarten Oderbruch, in dem sie auch aufwuchs. Die Oderflutkatastrophe 1947 hat sie selbst nicht miterlebt, aber die Erzählungen der Großeltern und Eltern, der Nachbarn und Bewohner haben sie geprägt. Auch die Fotos hat sie vor Augen, als das Wasser bis zur Wohnzimmerdecke stieg. »1997 brach der Deich erneut. Meine Familie hatte Glück. Wir sind diesmal nicht überflutet. Und doch schwebte das Risiko einer erneuten Flut wie ein Damoklesschwert über uns. Von diesem Zeitpunkt an wollte ich weg«, berichtet Heike Buß. Sie lebt heute in Bad Freienwalde.

Die Entspannungstherapeutin ist eigentlich gelernte Bankerin. Sie arbeitete viele Jahre als Anlageberaterin und beriet Menschen, die für sie passende Spar- und Geldanlage zu finden, für sie stimmige Aktien und Wertpapiere auszuwählen, Risiken zu kalkulieren und möglichst zu verringern. Heike Buß weiß, was es heißt, ständig unter Druck zu stehen, wie es sich anfühlt, wenn einem der Atem stockt. »Das war nicht gerade gesundheitsförderlich, sondern außergewöhnlich stressig. Ich konnte kaum noch abschalten. Dazu kam ein Schicksalsschlag in meiner Familie. Ich funktionierte nur noch wie eine Maschine, konnte nicht mehr tief durchatmen. Mich selbst gab es gar nicht mehr.«

Allmählich fand Heike Buß zurück ins Leben und zu sich selbst. Sie erlernte Reiki, die uralte japanische Entspannungs- und Heilmethode, und die Fünf Tibeter, eine Abfolge von fünf Übungen, die den Körper und Geist gesund halten. »Viele meiner Kunden in der Bank bemerkten, wie sich mein Aussehen, meine Körperhaltung, meine Körperspannung verändert hatten. Es fiel ihnen auf, dass ich ausgeglichener war.« Sie habe mehr Ruhe und Harmonie ausgestrahlt. Als sie hörten, was Buß dabei half, wollten sie mehr über die fernöstlichen Heilmethoden erfahren und diese auch praktizieren. Sie empfahl ihnen entsprechende Schulen. »Sie aber wollten am liebsten von mir behandelt werden. So kam es, dass ich mich mit dem Gedanken vertraut machte, Menschen nicht mehr in Geldanlagen zu beraten, sondern in Lebensfragen.« Mit Menschen zu arbeiten, hatte ihr schon immer zugesagt. Das musste ja nicht für immer in der Bank sein, entschied sie. Heike Buß absolvierte daraufhin viele Seminare und Weiterbildungen, machte ihren Reiki-Meister, legte Prüfungen ab als Entspannungstherapeutin und als Heilpraktikerin für Psychotherapie.

Vor 14 Jahren vollzog die heute 57-Jährige dann den einschneidenden Schritt und hörte im Bankgeschäft auf. Es gehörte Mut dazu, das sichere geregelte Angestelltenverhältnis zu verlassen und den guten Verdienst aufzugeben. Heike Buß, die genau kalkulieren konnte, sich mit Wagnissen auskannte, ging das Risiko der ungesicherten Existenz ein und machte sich selbstständig. »Mein äußere Leben war bis dahin behütet, aber innen stimmte es nicht mehr«, erinnert sie sich. Obwohl es in den ersten Jahre sehr schwer für sie war, ihren Platz zu finden, mit dem neuen Berufsbild auf dem freien Markt Fuß zu fassen, eine eigene Praxis zu eröffnen und Klienten zu gewinnen - bereut hat sie diesen Schritt nie. Alles ergab sich dann irgendwie. Ein Schritt führte zum nächsten. Anfangs gründete sie eine »Herz-Lungen-Sportgruppe« mit dem Fokus auf Atemtraining.

Sie eröffnete bald ihre eigene Praxis für Psychotherapie, ging in Kindertagesstätten und Schulen, um Yoga und Entspannungsübungen anzubieten und begann, präventiv mit Selbsthilfegruppen zu arbeiten. »Ich habe alle Altersgruppen erforscht, Menschen studiert, ihre Gefühle, ihre Brüche und Aufbrüche auf ihrem Weg, ihre oftmals verborgenen Schätze, ihre Stärken und Fähigkeiten.« Auf die Ressourcen eines Menschen legt sie besonderen Wert. Auf die Hilfe zur Selbsthilfe. »Wenn jemand in Panik gerät, braucht er Werkzeuge, die er dann zur Hand haben muss. Da spielt als Erstes der Atem eine große Rolle. Er beruhigt den Geist. Er trägt und hält uns am Leben.«

Auf dem Gesundheitsweg »Atem schöpfen« sind geführte Touren möglich. Infos unter: 0 33 44/150 890

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