Inseln im Strom

Das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit bedienen Politik und Unternehmen nur sehr bedingt: Sie stellen »Sicherheit im Wandel« und »zukunftsfähige« Arbeitsplätze in Aussicht

Die Menschen in Deutschland wünschen sich laut Umfragen vor allem Sicherheit, und das bedeutet zumeist: materielle Sicherheit für sich und die ihren. Politik und Unternehmen versprechen derzeit auch Sicherheit - doch ist dieses Versprechen ein sehr bedingtes: Angesichts eines offenbar permanent bedrohten Wohlstands mahnen sie die Bevölkerung, sich dem »notwendigen Wandel« durch Digitalisierung, Klimawandel und Globalisierung zu stellen. Sicherheit gebe es nur »im Übergang«, und dieser Übergang biete keine Verlässlichkeit, aber immerhin Chancen - Risiken inklusive.

Sicherheit, das bedeutet vor allem Planbarkeit und Kontrolle über die Lebensumstände. Sie schafft Handlungsfähigkeit und ist daher kein Gegensatz zur Freiheit, sondern deren Bedingung. Unsicherheit dagegen macht unglücklich und zuweilen krank. »Auch in der Mittelschicht wächst die Sorge vor sozialem Abstieg und gesellschaftlicher Deklassierung«, schrieb bereits vor zehn Jahren eine Gruppe von Psychologen im Sammelband »Selbstsorge in unsicheren Zeiten«. »Arbeitsplatzunsicherheit in ihren verschiedenen Spielarten führt zu Stress und gesundheitlichen Einschränkungen.«

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So wächst schrittweise das Unbehagen in der Bevölkerung. Zusätzlich genährt wird es durch wiederkehrende Wirtschaftskrisen und nun auch durch die Corona-Pandemie. »Sollte die ökonomische Unsicherheit steigen oder der Alltag der Menschen anhaltend durch die Krise beeinträchtigt bleiben - etwa durch einen weiteren Lockdown - ist anzunehmen, dass sich auch die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden verschlechtern«, befand das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung letzte Woche.

Auf das Bedürfnis der Wähler*innen reagiert die Politik, allerdings mit Einschränkung. »Sicherheit im Wandel«, versprechen CDU und SPD. Die Grünen bieten »Sicherheit im Übergang gerade für jene, die den Umbruch am stärksten spüren werden«. Zwar ist der Wohlstand so groß wie nie, die Wirtschaftsleistung wird 2021 ein Drittel höher sein als vor zehn Jahren. Doch stiftet dieser Reichtum anscheinend keine Verlässlichkeit, sondern wird bedroht durch »Wandel« und »Umbruch«. Was bedeutet das?

Schon in normalen Zeiten gilt: In der Marktwirtschaft wird der Wohlstand nicht einfach produziert, er muss permanent neu errungen werden - durch Unternehmen, die sich in der globalen Konkurrenz gegen die anderen durchsetzen. Es geht ums Gewinnen: »Wir wollen, dass Deutschland dauerhaft Spitze bleibt«, so die CDU. Verlässlichkeit ist in einem solchen Umfeld nie gegeben. Denn ob man sich durchsetzt oder nicht, hängt nie allein ab von den eigenen Strategien, sondern auch von denen der Konkurrenz. Damit sind Umsätze und Arbeitsplätze - und damit Sicherheit - stets gefährdet, nicht nur in Krisenzeiten.

Dazu kommt nun der aktuelle »Umbruch«: Die Bedingungen der Konkurrenz ändern sich. Der Klimaschutz macht alte Produkte und Produktionsmethoden obsolet oder teuer, zum Beispiel den Verbrennungsmotor. In die gleiche Richtung wirkt der Einsatz digitaler Technik, die laut deutschem Maschinenbauverband den Unternehmen zweierlei ermöglicht: »Kosteneinsparung« und »schneller neue Produkte produzieren«.

Das hat Folgen für Arbeit und Einkommen: »Die rasante Entwicklung von digitalen Informationstechnologien verändert Arbeitsplätze und Tätigkeiten in einer bisher nie dagewesenen Schnelligkeit«, so das Institut ZEW. Laut einer Studie des McKinsey Global Institute vom Februar stehen in Deutschland bis 2030 rund 10,5 Millionen Beschäftigte vor grundlegenden Veränderungen. Tätigkeiten verändern und Qualifikationen entwerten sich: Was man gelernt hat, worauf man sich verlassen hat, ist nichts mehr wert.

Stillstand bedeutet Rückschritt

Diese Entsicherung wird von Politik und Wirtschaft für unaufhaltsam erklärt. Es regiert das anonyme Subjekt »Digitalisierung«, sie ist der Wandel, die Dynamik, das Moderne schlechthin, weswegen die CDU ein »Modernisierungsjahrzehnt« ankündigt. Demgegenüber gilt das Bedürfnis nach Sicherheit als rückwärtsgewandt. »Das Projekt-Dispositiv, zum Beispiel die ›Dynamik‹, ist sehr stark geworden und wird immer wieder ideologisch gepusht«, sagt der Soziologe Oliver Nachtwey. Sicherheit steht daher für Stillstand und damit für Rückschritt. Denn wer im Rennen stillsteht, bleibt zurück. »Es gilt, die sich bietenden Chancen nicht zu verpassen«, mahnt der Wirtschaftsminister.

So werden die sicherheitsbedürftigen Menschen vorbereitet - zum Beispiel auf eine weitere Flexibilisierung ihrer Arbeit. Denn »neue Arbeitsformen wie Gig-, Click- und Crowdworking sind auf dem Vormarsch« (CDU), und BDA-Ehrenpräsident Ingo Kramer fordert, sich »von der Vorstellung [zu] lösen, dass ein weitgehend regulierter Arbeitsplatz ein sicherer Arbeitsplatz ist«.

Die Botschaft: Wirkliche Sicherheit gibt es erstens nicht, allem Reichtum zum Trotz. Zweitens gefährdet sie sogar den Wohlstand. Denn der Sozialstaat wiege die Menschen in Sicherheit, mindere den Anreiz - also den Zwang - zur Arbeit, weswegen der Arbeitgeberverband BDA dafür ist, das Arbeitslosengeld auf zwölf Monate zu begrenzen, um »trügerische Sicherheit« abzubauen. Zudem ist der Sozialstaat den Unternehmen langsam zu teuer. Sein Ausbau »erzeugt massive Risiken für die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die wirtschaftliche Entwicklung im Inland, mit ungünstigen Auswirkungen auf die Beschäftigung«, so der BDA. Die Politik hört den Ruf.

In diesem Umfeld behandeln Politik und Unternehmen den Wunsch nach Sicherheit als ein verständliches Bedürfnis, auf das sie Rücksicht nehmen, das aber gleichzeitig dem »Wandel« dienen muss. Denn »wer Neues wagt, braucht Sicherheit«, erklärt die SPD, und die Grünen mahnen: »Angst lähmt und macht mürbe. Menschen benötigen auch im Übergang Sicherheit.«

Und die gibt es nur durch Arbeit, da sind sich die genannten Parteien einig. Die Grünen wollen daher »gute und sichere« Jobs schaffen. Die CDU verspricht, die »Wirtschaft wieder in Schwung« zu bringen als Voraussetzung für »sichere und zukunftsfähige Arbeitsplätze«. Sie ist, wie die SPD, gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen und »steht zum Fördern und Fordern. Deshalb werden wir auch die Sanktionsmechanismen im SGB II beibehalten«.

Im reißenden Strom des »Wandels« bietet die Politik also nur kleine Inseln der Sicherheit, kein Ufer. Das Einkommen bleibt abhängig vom sich rasant verändernden Arbeitsplatz, und der bleibt abhängig vom Erfolg der Unternehmen, ebenso wie die soziale Sicherheit. »Die beste Rentenpolitik ist eine gute Wirtschaftspolitik«, so die CDU.

Um im Strom mitzuschwimmen, wird von den abhängig Beschäftigten permanente Anpassungsbereitschaft gefordert. »Die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen ist die zentrale Voraussetzung, um mit der Digitalisierung zurechtzukommen«, so das ZEW, und der BDA sekundiert: »Nur Bereitschaft zur Veränderung kann Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung sichern.« Alle Parteien bieten daher Offensiven zur beruflichen Aus- und Weiterbildung an. Was künftig gelernt werden soll, bleibt vorerst offen. Denn den Bedarf definieren die Unternehmen nach Maßgabe der Marktsituation.

So soll Sicherheit gewährleistet werden - durch Anpassung an das Unvorhersehbare. Angekündigt ist damit eine Art permanente Krise, die sich bereits bemerkbar macht: Laut DGB-Umfragen bringt das Leben in der Digitalisierung bislang vor allem eine »höhere Arbeitsmenge« und »eine überdurchschnittliche Verbreitung belastender Arbeitszeiten«. Das Einkommen bleibt also prekär. Sicherheit wiederum garantiert nur eines: Vermögen. Am sichersten leben die Reichen, und sie sind es auch, die am freiesten sind. Daran will die CDU nicht rütteln: Eine Vermögensteuer lehnt sie ab.

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