»Wer aus dem Osten ist, wird immer noch unterschätzt«

Das Mitmach-Fotoprojekt »Schwalbenjahre« zeigt Alltagsbilder aus der DDR

Welches Bedürfnis hat sich bei Ihnen artikuliert, Familien aus der ehemaligen DDR über Instagram die Möglichkeit zu geben, ihre Fotoalben zu teilen und dazu etwas zu schreiben?

Vor zwei Jahren habe ich einen Radiobeitrag zum 30. jährigen Jubiläum des Mauerfalls gehört, in dem es auch nach dieser langen Zeit immer noch um Klischees ging. Ich war schockiert und habe recherchiert, ob es wirklich gar keine anderen Erzählungen über den Osten gibt, außer Mangelgeschichten, Tristesse und Bananen-Witze. Weil das aus meiner Sicht damals nicht der Fall war, habe ich das Projekt »Schwalbenjahre« gestartet. Inzwischen muss ich sagen, dass sich in den zwei Jahren enorm viel getan hat. Ich wollte zeigen, welche tollen Leute es im Osten gibt und gab, nur weiß von denen keiner.

Interview

Jessica Barthel, geboren 1984 in Leipzig, aufgewachsen im Süden Deutschlands. Sie studierte in New York Fotografie und assistierte nach einem Design Studium in Berlin für die »New York Times«. Als freischaffende Fotografin arbeitet sie u.a. für »Vogue«,« New York Times« und »Zeit«. Sie lebt heute zwischen Berlin und Leipzig. 2020 startete sie auf Instagram das Mitmach-Projekt »Schwalbenjahre«, bei dem Familien aus der ehemaligen DDR ihre privaten Fotoalben öffnen und ihre Geschichten zu den Bildern erzählen. Inzwischen ist auch ein gleichnamiger Fotoband erschienen. Mit Jessica Barthel sprach Christin Odoj über ostdeutsche Identitäten, das Ende der Bananenwitze und wässrigen Sirup.

Bei einer Lesung von Manja Präkels in Weimar lagen sich die Ostdeutschen über die Feinheiten der DDR-Wirtschaftspolitik in den Haaren. Über Klischees wurde den ganzen Abend nicht geredet. Sind wir da nicht nach 30 Jahren auch schon drüber hinweg?

Ich erlebe es aber noch immer: Wenn ich neue Menschen kennenlerne, ist es am Anfang immer die gleich Reaktion, wenn ich sage, wo ich geboren bin. Zuerst habe ich es nie persönlich genommen, aber inzwischen beschäftigt es mich doch sehr, weil ich zwischen attackieren oder ignorieren schwanke. Sie sagen: Ach, du bist aus dem Osten und hast es trotzdem so weit geschafft. Die Leute bringen es nicht zusammen, dass ich Künstlerin bin, eine Weile in New York gelebt habe und aus dem Osten komme. Wer aus dem Osten kommt, wird immer noch unterschätzt.

Deshalb erwähnen viele im Gespräch ihre Herkunft erst nicht, oder viel später, so meine Erfahrung.

Viele sehen erst mal keinen Grund dafür oder fürchten tatsächlich, dass sie benachteiligt werden. Das sind alles Erfahrungswerte. Oder sie wollen eben nicht genau mit diesen ganzen Klischees konfrontiert werden. Als ich in New York gelebt habe, hat gereicht zu sagen, ich komme aus Deutschland. Ich finde es aber eben auch falsch, darüber gar nicht zu sprechen.

Es ist auffällig, dass die Wendegeneration jetzt anfängt, Fragen zu stellen. Die Elterngeneration scheint wenig von sich aus preiszugeben. Warum?

Es musste wohl ein bisschen Zeit vergehen. Wir übernehmen jetzt zwei verschiedene Dinge, sowohl Aufklärung als auch Verarbeitung der DDR und das machen wir für unsere Eltern ein Stück weit mit. Weil die damals einfach keine Zeit hatten, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Ihre Aufgabe war die alltägliche Auseinandersetzung mit dem Westen, mit dem neuen Leben in einem wiedervereinigten Deutschland. Ostdeutsch wurde man ja erst nach der Wende. Selbst vor zehn oder fünfzehn Jahren haben sie diesen Kampf noch gekämpft. Erst jetzt wird es langsam Zeit für ein Fazit.

Gibt es denn eine Ostidentität?

Auf jeden Fall. Politisch war die DDR 1990 verschwunden, aber die Wendejahre und die vielen Jahre davor bleiben in den Menschen verankert. Die Menschen im Osten mussten sich schlagartig mit dem Westen auseinandersetzen - umgekehrt war das eher weniger notwendig. Menschen hatten mit ihren Identitäten zu kämpfen. Viele Werte und Regeln, mit denen sie aufgewachsen sind, waren auf einmal verschwunden. Es gab Enteignungen, Arbeitslosigkeit, ganze Berufsbilder wurden gestrichen, Menschen verloren ihre Wohnung und Häuser und das Geld in der Brieftasche war auf einmal nur noch einen Bruchteil wert. Aber auch für die Kinder der Wende war es schwierig, weil sie die Anpassung an das neue Leben beobachtet haben, aber die Eltern sehr viel mit sich beschäftigt waren.

Ihre Eltern sind nach ihrer genehmigten Hochzeitsreise nach Ungarn in den Westen geflohen und haben sich in Süddeutschland niedergelassen. Sind sie immer noch dort?

Ja, meine Eltern leben noch immer in Bayern. Ich hingegen habe mich in Bayern nie wohl gefühlt. Die Berge, die für viele ein Symbol der Freiheit sind, engen mich noch immer ein.

Mit Ihrem Fotoprojekt wollen Sie genau daran arbeiten. Den Austausch zwischen Ost und West fördern. Interesse für die andere Lebenswelt jenseits von Bananen-Witzen wecken. Ist das gelungen?

Ich wollte mit dem Projekt ganz allgemeine Barrieren brechen. Es ist ja klar, dass man eine Zufallsbekanntschaft nicht sofort nach schwierigen Situationen aus der Vergangenheit ausfragt. Aber »Schwalbenjahre« hat dazu beigetragen, dass die Leute überhaupt anfangen, zu sprechen und sich austauschen. Das Internet gibt die Möglichkeit, eben doch wie auf einer Küchenparty, sich gegenseitig auszufragen. Ich habe auch schon Nachrichten von Westdeutschen bekommen, die sich bedankt haben, dass sie dadurch Einblicke bekommen haben, die dem, was sie über den Osten - teilweise auch unterbewusst - eingetrichtert bekommen haben, total widersprechen. Es passiert ja bei den meisten schon in der Kindheit, dass ein Kommentar über den Osten oder Westen sich dann für den Rest des Lebens einprägt und das gesamte Bild bestimmt, das auch nie hinterfragt wird.

Sie sind mit einem Westdeutschen verheiratet, waren als Fotografin viel unterwegs, haben eine Schwester, die 1995 in Bayern geboren ist. Nehmen sich die Jüngeren aus Ost und West inzwischen gegenseitig anders wahr?

Ich glaube, was man Annäherung nennen kann, ist das, was mit der Wendegeneration und der davor gerade stattfindet. Also die, die jetzt um die 30 sind und den vielleicht Mitte 50-Jährigen. Da ist aus meiner Wahrnehmung ein gegenseitiges Interesse da. Meine Schwester sagt, dass sie diese Vorurteile schon fast überhaupt nicht mehr betreffen und sie damit gar nicht konfrontiert ist. Und da schließt sich dann gleich die nächste Frage an: Ab wann ist man denn eigentlich ostdeutsch? Wenn die Eltern Ostdeutsche sind? Wenn man dort geboren ist oder dort die meiste Zeit gelebt hat? Ich war fünf als meine Eltern nach Bayern gingen, trotzdem fühle ich mich als Ostdeutsche, meine Schwester fühlt sich als Bayerin.

Ich stelle mir das immer wie einen DDR-Sirup vor, in den man Wasser rein kippt, also Zeit, Erfahrungen, die nichts mehr mit der DDR zu tun haben. Je mehr Wasser dazu kommt, desto blasser wird die Erinnerung an die DDR.

Bei mir wäre es genau andersrum. Ich stelle mir ein Glas Wasser vor und sobald ein Tropfen Sirup, also DDR, reinkommt, ist es schon kein klares Wasser mehr.

Inzwischen gibt es bei den Jüngeren diesen Stolz auf den Osten, der etwas Trotziges hat, obwohl sie die DDR gar nicht mehr oder nur sehr wenig erlebt haben.

Aus Trotz ist es vielleicht noch mal eine andere Sache, aber ich finde es schön, wenn es ein Bewusstsein dafür gibt. Also vielleicht auch ein bisschen stolz auf die eigenen Eltern zu sein, dass sie diese Zeit so gut gemeistert haben oder zumindest irgendwie gemeistert haben. Das ist allemal besser als sich zu verstecken und zu schämen.

In der Einleitung zum Fotoband steht, dass er keine Bewertung über die DDR abgeben will. Warum ist Ihnen das wichtig, zu betonen?

Es geht mir mit dem Projekt nicht um eine politische Bewertung der DDR, das kann und will es nicht leisten. Es geht um die Alltagserfahrungen der Menschen, die sie hier selbstbestimmt erzählen, ohne etwas vorgegeben zu bekommen oder sich an Erwartungen und Vorurteilen langzuhangeln.

Der Fotoband »Schwalbenjahre« ist momentan vergriffen, soll aber eine zweite Auflage bekommen. Das Mitmachprojekt findet sich auf instagram unter @schwalbenjahre
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