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  • Fußball-EM und Corona

Als ob nichts wäre

Während der EM stiegen die Infektionszahlen - die Veranstalter ließen trotzdem immer mehr Fans ins Stadion

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein fußballbegeisterter Kollege hat dieses Jahr die Europameisterschaft der Männer nicht geguckt. Er ist sauer, dass seine Kinder über eineinhalb Jahre überwiegend zu Hause bleiben mussten, nicht zur Schule und nicht zum Schwimmtraining gehen konnten. Aber, so sagt er: »Für den Profifußball gilt das alles nicht. Der tut so als ob nichts wäre.«

Tatsächlich schien es ein stückweit so in den vergangenen vier Wochen dieses Turniers, das am Sonntagabend mit dem Finale im Londoner Wembleystadion zwischen Italien und England (n. Red.) zu Ende gegangen ist. Während uns Schreckensmeldungen über rasant ansteigende Infektionen mit der Deltavariante und der reduzierten Wirksamkeit der Impfstoffe gegen diese Mutation erreichten, lief in der vorgeblich unpolitischen Fußballwelt der Uefa alles nach Plan.

Bereits im Frühling hatte der europäische Verband von den Gastgeberstädten eine Garantie verlangt, dass alle Spiele vor Publikum gespielt werden dürfen. Dublin und Bilbao waren nicht willens, diese Garantie zu geben. Prompt wurden sie als Austragungsorte ersetzt. München gab nur eine eingeschränkte Garantie, blieb damit aber im Spiel. Die Auslastung der jeweiligen Spielorte wurde individuell geregelt, nach willkürlichen Kriterien. Das Infektionsgeschehen war wohl keines davon. Bei dem Vorrundenspiel im Wembleystadion am 24. Juni waren 20 Prozent der Plätze belegt, die Zahl der Neuinfektionen in Großbritannien lag damals bei 16 700. Zwei Wochen später waren beim Finale mit mehr als 60 000 Fans 75 Prozent der Plätze belegt, die Zahl der Neuinfektionen lag bei rund 32 000 - fast doppelt so hoch.

Es ist noch nicht abzusehen, welchen Einfluss die Fußballspiele tatsächlich auf das Infektionsgeschehen und die Verbreitung der Deltavariante in Europa hatten. Die europäische Gesundheitsbehörde ECDC wird die Infektionen im Zusammenhang mit der EM noch bis eine Woche nach dem Ende des Wettbewerbs beobachten. Klar ist jedoch schon jetzt, dass sich nicht wenige Menschen im Zusammenhang mit dem Turnier angesteckt haben.

Vor den Finalspielen hatte die ECDC 2500 Infektionen in Zusammenhang mit der EM in sieben Ländern gezählt. Mit 1991 Fällen besonders betroffen sei Schottland. Allein 397 infizierte Fans sahen sich laut der schottischen Gesundheitsbehörde das Spiel England gegen Schottland im Wembleystadion am 18. Juni an - wo man auf den Plätzen zwar keine Masken tragen musste, aber nur geimpft, durch eine vergangene Corona-Erkrankung immunisiert oder mit einem negativen Test eintreten durfte. Uefa-Präsident Aleksander Čeferin zweifelt daher die Erkenntnisse der ECDC an und streitet einen Zusammenhang zwischen den EM-Spielen und Covid-19-Infektionen ab.

Hajo Zeeb leitet die Abteilung Prävention und Evaluation des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Er rechnet für »nd« ein Beispiel mit einem mit 60 000 Fans gefüllten Stadion durch, um zu erklären, warum es trotzdem zu Infektionen kommen kann. Dabei nimmt er an, dass die Hälfte der Besucher*innen geimpft oder immunisiert ist und die andere Hälfte negativ getestet. Durch die Ungenauigkeit der Tests kommt er auf - konservativ gerechnet - zwölf unerkannt infizierte Menschen, die sich im Stadion aufhalten und jeweils etwa drei bis sechs weitere anstecken. »Das sind auf den ersten Blick wenige, aber das kann sich sehr schnell zu den Hunderten von Fällen entwickeln, die wir nach den Spielen gesehen haben, etwa aufgrund der Kontakte rund um das Spiel, oder weil die Annahmen zu konservativ sind und die echte Häufigkeit höher«, sagt Zeeb zu »nd«. Zu letzterem könnte auch beitragen, dass für den Aufenthalt im Wembleystadion lediglich unbeaufsichtigte Selbsttests gefordert waren. Das bis zu zwei Tage alte Ergebnis konnten die Fans selbst online eintragen. In Glasgow und St. Petersburg war der Besuch eines EM-Spiels sogar ganz ohne vorherige Testung möglich.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach kritisierte das Vorgehen der Uefa am Sonntag im Fußballmagazin »11 Freunde« harsch und warf dem Verband vor, Todesfälle zu verantworten. Der medizinische Berater des Fußballverbands, Daniel Koch, erklärte gegenüber »nd«: »Es ist nicht völlig auszuschließen, dass Veranstaltungen und Versammlungen letztlich zu einem gewissen lokalen Anstieg der Fallzahlen führen könnten.« Dies gelte jedoch nicht nur für Fußballspiele, sondern für jede Art von Situationen, die jetzt im Rahmen der von den zuständigen lokalen Behörden beschlossenen Lockerungsmaßnahmen erlaubt seien.

Allerdings galten für die Spiele bei dieser Europameisterschaft vielfach andere Maßstäbe als für jede andere »Art von Situationen«. Das zeigt ein Blick auf Deutschland: Bei einem Spiel in der Münchner Arena erlaubte die Stadt München 14 000 Zuschauer*innen. Oberbürgermeister Dieter Reiter sagte dazu der Deutschen Presse-Agentur: »Wenn die Münchner Philharmoniker in der Allianz Arena einen Auftritt machen würden, dürften 1500 Zuschauer rein, da sind die Regeln viel strenger. Wie soll ich das unseren Bürgerinnen und Bürgern erklären?« Auch in Berlin galt zuletzt eine Obergrenze von 2000 Menschen für Veranstaltungen im Freien, ab dem 10. Juli sind in Arenen bis zu 25 000 zugelassen, vorausgesetzt die Sieben-Tage-Inzidenz liegt unter 35. In Großbritannien lag dieser Wert am Sonntag bei 311.

Hajo Zeeb plädiert dafür, auch künftig Großveranstaltungen nur mit umfassenden Konzepten des Testens, der Abstandswahrung und mit Masken abzuhalten. Der Epidemiologe begrüßt die vorsichtigere Herangehensweise bei Olympia. Nach der erneuten Verhängung des Corona-Notstands für Tokio am Donnerstag hatten die Organisator*innen der Sommerspiele den Ausschluss aller Zuschauer*innen von den Wettbewerben in Japans Hauptstadt beschlossen.

Als Vorzeigeprojekt gilt derzeit die deutsche Bundesliga: »In Kombination mit Schnelltests und der Devise, dass nicht mehr als jeder fünfte Platz besetzt wird, dürfte man dieses Konzept als sicher betrachten - da bin ich mir sehr sicher«, so Lauterbach. Ob das den Kollegen beruhigt, für dessen Kinder immer noch kein Konzept in den Schulen entwickelt wurde - das ist weniger sicher.

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