»Die Südsee im Koffer«

Die Deutschen und ihr Blick auf »fremde Kulturen«: Persönliche Skizzen kolonialer Perspektiven

  • Mira Landwehr
  • Lesedauer: 6 Min.

Rückblick auf das Jahr 1989: Das Brettspiel »Café International« wird Spiel des Jahres und wenig später zu einer meiner liebsten Freizeitaktivitäten. Die Regeln: Man platziere seine Spielkärtchen so, dass nach Möglichkeit reine »Nationentische« entstehen, also Russen mit Russinnen und Amerikaner mit Amerikanerinnen zusammensitzen - diese Tische bringen extra viele Punkte. Besonderes Schmankerl: Afrika ist ein Land.

Einige Jahre später im Leistungskurs Geschichte, 2002, Stoff: europäischer Imperialismus des 19. Jahrhunderts. Unser Lehrer, ein ehemaliger Bundeswehroffizier mit Faible für Militärgeschichte, fasst die Kolonialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs mit den Worten zusammen, die Kolonien seien letztlich ein Verlustgeschäft gewesen, da die Investitionen der Deutschen sich nicht rentiert hätten und die Profite von den horrenden Verwaltungskosten aufgefressen worden seien.

Das ist, betrachtet man lediglich die ökonomische Gesamtbilanz des deutschen Außenhandels, durchaus richtig, jedoch arg verkürzt dargestellt.

Kein Wort hörten wir über die permanente strukturelle Gewalt, der die indigenen Bevölkerungen ausgesetzt waren. Kein Wort über die Ausbeutung der Arbeitskraft der Menschen, die vor dem Einfall der Deutschen Subsistenz- und Naturalwirtschaft betrieben hatten und nun Zwangsarbeit leisten mussten, damit deutsche Handelsfirmen und Kaufleute den Mehrwert dieser Arbeit abschöpfen konnten. Keine Problematisierung von Begriffen wie »Mutterländer«, »Erwerb«, »Schutzgebiete«. Kein Wort über das Fortwirken kolonialrassistischer Strukturen und Denkweisen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Deutschland seine Kolonialgebiete verlor, bis heute.

In meiner gesamten Schulzeit habe ich niemals etwas von der Ermordung Zehntausender Herero und Nama gehört.

Eine Werbetafel am Eingang zur Afrika-Dauerausstellung des Bremer Überseemuseums, die ich 2019 besuchte, verkündet: »Die Ausstellung beleuchtet die verschiedenen Aspekte entlang der Themen Alltag, Wüste, Ressourcen, Gesellschaft und Hominisation. (…) Die zum Teil sehr alten Sammlungen bezeugen die lange Geschichte des Kontinents. Sie helfen zudem, die heutigen Herausforderungen besser zu verstehen.«

Auf einer anderen Tafel liest die interessierte Besucherin: »In vielen afrikanischen Ländern fehlt es an ausreichenden Einkommensquellen. Der Einzelne hat kaum Chancen, seine Lebensperspektive zu verbessern.« Warum ist das bloß so? Persönliches Pech? Schicksal?

In einem anderen Stockwerk sehen wir »die Südsee im Koffer. Souvenirs sind ein greifbarer Beweis für den Aufenthalt an fremden Orten, mit denen der Reisende seine Träume und Erinnerungen festhalten will. Darüber hinaus soll das Mitbringsel der Zierde dienen und nützlich sein.« Schwarze Menschen tanzen in Bambusröcken auf vergilbten Urlaubspostkarten. Klischees, wohin man blickt.

Noch ein Schaukasten: »4. Axt mit Metallklinge, Papua Neuguinea. Geschenk Docke & Co 1981, zum Fällen der Sagopalme. 5. Axt mit Steinklinge, Sepik, Papua Neuguinea, um 1900, zum Fällen der Sagopalme. 6. Sagohammer, Admiralitätsinseln, Papua Neuguinea, Sammlung L. Cohn 1912.«

Eine Figurengruppe, mit einiger Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Diebesgut wie in circa 95 Prozent aller Fälle von nichteuropäischer Kunst. »Viele Riten wurden unter dem Einfluss der Missionierung untersagt oder im Laufe der Zeit unterschiedlich bewertet. Die Ahnenfiguren wurden häufig zerstört oder verkauft, ohne dass ihre Bedeutung überliefert wurde. So wissen wir oft nur wenig über diese Schnitzwerke, die in gleicher Form nicht mehr hergestellt und verwendet werden. Geblieben sind Figuren, die durch ihre künstlerische Ausdruckskraft beeindrucken.«

Dezember 2020: In Berlin findet die Eröffnung des neuen alten Völkerkundemuseums im neuen alten Hohenzollernschloss (Humboldt Forum) statt. Einige Leitmedien gebärden sich seit geraumer Zeit entsetzt darüber, dass im vergangenheitsbewussten Deutschland des 21. Jahrhunderts tonnenweise koloniales Raubgut ausgestellt wird - beziehungsweise in den Magazinen verrottet.

Warum aber werden ausgerechnet jetzt erste nennenswerte Rückgaben an die Herkunftsorte angeleiert, Stichwort Benin-Bronzen? Weil man nicht hinter Frankreich, dessen Präsident Emmanuel Macron damit angefangen hat, zurückstehen will? Weil die Magazine ohnehin platzen? Weil sowieso niemand kommt, sich die Schätze anzusehen? Weil man es sich in einer aufgeklärten, postkolonialen Welt nicht mehr leisten kann, die gestohlenen Werke nicht zurückzugeben? Oder weil es in digitalen Corona-Zeiten ohnehin kaum mehr eine Rolle spielt, wo die Artefakte herumstehen?

Mai 2021: Bundesaußenminister Heiko Maas kündigt an, um Vergebung für den Völkermord an rund 90 000 Herero und Nama zu bitten. Mit den Nachkommen der Opfer verhandelt Deutschland nicht, sondern mit der korrupten namibischen Regierung. Geld soll zwar fließen, jedoch lediglich als weitere Entwicklungshilfe. Entschädigungszahlungen könnten einen Präzedenzfall schaffen.

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Juli 2021: Das Hamburger Museum der Arbeit versucht derzeit mit einer Ausstellung andere Narrative in den Fokus zu rücken, begrenzt sich dabei jedoch selbst durch das Raster der Critical Whiteness, weshalb die Ausstellung auf Gewaltdarstellungen verzichte und an ihrer Stelle bewusst mit Schwarzflächen als Leerstellen arbeite.

Die Macher*innen müssen sich die Frage gefallen lassen, ob nicht sämtliche gezeigten historischen Abbildungen von Betroffenen aus einem »gewaltvollen« und »weißen« Blickwinkel entstanden sind und somit geschwärzt gehören. Erfreulich ist allerdings, dass ausnahmsweise kein Kolonialwarenladen zur Veranschaulichung nachgebaut wurde.

Einige Besucher*innen kritzeln ihre Empörung ins Besucherbuch zur Hamburger Ausstellung: Afrikanische Könige hätten schließlich auch selbst am Sklavenhandel mitverdient. Ergo, doch das trauen die Hobby-Ethnolog*innen sich so deutlich nicht hinzuschreiben: Die gierigen schwarzen Herrscher waren noch schlimmer als die Weißen, weil sie ihre eigenen Leute verschachert haben. Es gibt schlicht keine widerspruchsfreien Identitäten, hält der Lyriker, Publizist und Politikwissenschaftler Max Czollek in seinem Buch »Desintegriert euch!« fest.

Mit besagtem Leistungskurs fuhren wir im Sommer 2002 einmal nach Berlin, in jenes Museum, das nach seinem Prunkstück benannt ist, dem Pergamonaltar. Eine Freundin und ich hatten uns einige Tage vor der Fahrt beide am Rücken tätowieren lassen.

Meine eindrücklichste Erinnerung an diesen Tag: Die Hitze im Bus und das unangenehme Gefühl der schmierigen Tattoofarbe, die eine unschöne Symbiose mit dem T-Shirt-Stoff einging. Die türkische Stadt Bergama (Pergamon) fordert den Altar seit 1990 von Deutschland zurück. Zu sehen sein wird das Bauwerk wegen Restaurationsarbeiten vermutlich erst wieder 2024 - selbstverständlich auch dann in Berlin.

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Später im gleichen Jahr fuhr unser Kurs schließlich auf eine Studienreise in die Türkei, um in der Mittagshitze des Spätsommers alte Steine in ihrer ursprünglichen Umgebung zu betrachten.

Die begleitenden Lehrkräfte betranken sich früh am Abend, schleppten entgegen den Bitten des Personals säckeweise Weintrauben ins Hotel und hatten bald ebenso wie die Schülerschaft keine Lust mehr auf die öden Referate über die Geschichte der geschichtsträchtigen Orte, zu deren Abhaltung man uns anfangs meinte nötigen zu müssen.

Nein, die Deutschen schätzen keine »fremden Kulturen«. Sie schätzen auch nicht deren Besitz, weder im einen noch im andern Sinne. Was sie kultivieren wie einen Schatz, ist etwas, das ihnen gewiss niemand abspenstig machen wird: die eigene Kulturlosigkeit.

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