Eine Rundfahrt der großen Abschiede

TOM AUF TOUR: Über ein Rennen als Abschiedsbühne

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Die 108. Tour de France wurde auch zur Abschiedsbühne. Der gebürtige Rostocker André Greipel verkündete: »Am Sonntag endet meine letzte Tour de France. Ich wurde am Freitag 39 Jahre alt, ich fahre gegen 20-Jährige. Und ich habe bei dieser Tour gemerkt: Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um aufzuhören.«

Ins gleiche Horn stieß der neun Tage ältere Belgier Philippe Gilbert. »Ich denke nicht, dass ich noch mal zurück zur Tour komme. Das Finale auf den Champs-Élysées ist das letzte Mal, dass ich Paris auf dem Rad erlebe«, meinte er. Noch deutlicher als Greipel machte er klar, dass die mageren Ergebnisse in den letzten Jahren ein Motiv zum Rückzug sind: »Ich musste bei den letzten vier Frankreich-Rundfahrten vorzeitig aussteigen. Deshalb war es mein großes Ziel, diese hier zu beenden. In jedem Alter bedeutet es viel, eine Tour zu Ende fahren«, erzählte der Lotto Soudal-Profi. Durchfahren statt um Siege zu kämpfen - ein kleines Ziel für einen großen Kämpen.

Im Gegensatz zu Greipel, der noch bei der Deutschland-Tour und den Hamburg Cyclassics endgültig seine Karriere beenden will, spielt Gilbert mit dem Gedanken, die nächste Saison zu fahren, im Alter von 40 Jahren, dann aber ohne Tour de France.

Damit ist das nächste Tour-Peloton um insgesamt 256 Profi-Siege, darunter 29 Etappensiege bei Grand Tours, zehn Klassikersiege und einen WM-Titel ärmer.

Greipel steuerte zu der Bilanz 158 Siege in 16 Saisons bei. Seine besten Karrierejahre verbrachte er beim Team Lotto Soudal. Von 2011 bis 2016 gewann er in jedem Jahr mindestens eine Etappe bei der Tour de France, schlug dabei unter anderem die Phänomene Mark Cavendish und Marcel Kittel. In den letzten Jahren neigte sich aber die Erfolgskurve nach unten. Selbst wenn seine Position gut und sein Sprint perfekt waren, sprang selten mehr als eine Top-10-Platzierung im Massensprint heraus. Das Adrenalin, das im Gerangel des Massensprints in den Athletenkörpern ausgeschüttet wird, wich bei Greipel immer mehr dem Testosteron, das Wut und Ärger erzeugt. Dopaminausschüttungen von Glück und Freude nahmen zumindest in den Rennen ab.

Beide Abschiede belegen den Generationswechsel im Radsport. Ältere Fahrer spüren immer mehr, wie ihnen die jungen davonfahren. »Ein Generationenwechsel ist normal. Aber gewöhnlich passiert das allmählicher. Die Jungen heute kommen aber gleich enorm stark an«, bemerkte Thomas De Gendt, Teamkollege von Gilbert und auch schon 34 Jahre alt. »Ich habe bei dieser Tour Wattzahlen getreten, mit denen ich früher das Peloton auseinandergefahren habe«, meinte der Belgier, dessen Markenzeichen tatsächlich megalange Solofluchten waren. »Hier aber fuhr ich mit den gleichen Zahlen hinter einer Gruppe von 70 Fahrern hinterher.« Wie lange sich De Gendt das noch antun will, ist fraglich. Vertrag für eine weitere Saison hat er noch.

Die Ankunft der neuen Phänomene nahm er aber auch mit Humor auf. Diese Zukunftsprognose stammt von ihm: »Wir befinden uns im Jahre 2032. Tadej Pogacar und Remco Evenepoel haben jeweils sechsmal die Tour de France gewonnen. Mathieu van der Poel trat bei den Olympischen Spielen in 17 Disziplinen an und gewann 17 Medaillen. Wout van Aert holt Paris-Roubaix zum 7. Mal. Und Alejandro Valverde kündigt an, dass er noch ein weiteres Jahr dranhänge, denn er fühle sich noch nicht alt.«

Valverde, aktuell 41 Jahre alt, kündigte tatsächlich den Rückzug vom Rückzug an. »Ich spüre, ich kann noch manches geben«, sagte er. Pogacar stand bei Redaktionsschluss kurz vor seinem zweiten Toursieg. Remco Evenepoel hat zwar noch nicht mal eine einzige Tour bestritten. Er gilt vielen belgischen Experten aber als Riesenrundfahrttalent. Der vielseitig talentierte Mathieu van der Poel reiste nach seiner Woche in Gelb bei der Tour nach Tokio, um dort um Olympiagold im Mountainbikerennen zu gewinnen. Dass Klassikertalent Wout van Aert bei dieser Tour die Etappe zum Ventoux und auch das letzte Zeitfahren gewinnen würde, schien selbst De Gendt bei seiner Zukunftsspekulation gewagt. Die Gegenwart ist manchmal schriller als die Prognosen. Warten wir auf 2032.

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