Afghanistans verfolgte Minderheit

Die Hazara werden im Land am Hindukusch seit Jahrzehnten diskriminiert, auch Morde und Übergriffe sind keine Seltenheit

  • Emran Feroz, Kabul
  • Lesedauer: 8 Min.

Frühjahr 2021. Im Kabuler Stadtteil Dascht-e Barchi haben sich Dutzende junger Menschen versammelt. Sie tragen Laufschuhe, Sportkleidung und wärmen sich auf. Einige von ihnen posieren für Fotos. Eine Geschlechtertrennung, wie sie ansonsten in Afghanistan meist üblich ist, gibt es nicht. Die meisten anwesenden Athleten haben aber zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind körperlich behindert - und sie gehören der mehrheitlich schiitischen Hazara-Minderheit an, die durch ihre »mongolischen« Gesichtszüge schnell erkennbar ist. In Dascht-e Barchi leben fast ausschließlich Hazara.

Unter ihnen befindet sich auch Ahmed-Walid Raschidi, ein junger Mann Ende zwanzig. Er ist fast 1,90 Meter groß, kräftig gebaut und trägt eine Beinprothese. Raschidi ist der Organisator der Sportveranstaltung. Er hat vor kurzem eine Nichtregierungsorganisation gegründet, die sich für die Belange von Behinderten innerhalb der afghanischen Gesellschaft einsetzen will.

Dann ertönt der Startschuss für den Lauf. Raschidi und die anderen Athleten rennen los. Manche von ihnen sind sehr schnell, andere kommen aufgrund ihrer Behinderung nur mäßig voran. Doch darum geht es heute nicht. »Jeder, der heute hier ist, ist ein Gewinner«, meinte Raschidi bereits im Vorfeld. Ähnlich sieht das auch das Publikum, das jeden Sportler kräftig anfeuert.

Das Ziel der Teilnehmer liegt nahe des Dar-ul-Aman-Palasts, dem einstigen Wahrzeichen Kabuls. Die Laufroute zum Palast umfasst mehrere Kilometer entlang einer ungesicherten Hauptstraße. Der rege Verkehr ist dort nur das kleinere Problem; regelmäßig wird die afghanische Hauptstadt von Autobombenanschlägen heimgesucht, vor denen praktisch niemand sicher ist. Besonders beliebt sind bei den Terroristen in diesen Tagen Haftbomben, sogenannte »sticky bombs«, die einfach und günstig zu beschaffen sind. Dass Raschidis Sportevent vor solchen Anschlägen sicher ist, kann niemand garantieren. Am Startpunkt lassen sich lediglich zwei Jeeps und eine Handvoll Soldaten finden. Sie wirken gelangweilt und desinteressiert. »Wir sind für diesen Stadtteil nicht mal zuständig«, meint ein Soldat. Dann äußert er sich rassistisch und abfällig über die Hazara.

Einige Momente später taucht ein älterer Mann auf. Er trägt einen Turban sowie einen grauen Schnurr- und Kinnbart, heißt Hussein Sakhizada und lebt seit Jahren in Dascht-e Barchi. Sport ist seine Leidenschaft, weshalb er heute erschienen ist. »Das sind zwar nicht die besten Sportler, doch ich möchte für sie da sein und sie unterstützen«, sagt der Ex-Ringer, der bis heute einen Ringerclub in Dascht-e Barchi betreibt. Sakhizada meint, dass der Sport besonders für sein Volk, die Hazara, wichtig sei. »Viele konnten dadurch dem Rassismus innerhalb der afghanischen Gesellschaft trotzen und sich hocharbeiten«, meint er.

Einige Stunden später sitzt Raschidi in seinem Büro im Stadtteil Schahr-e Naw. Es liegt nahe einer belebten Hauptstraße, in der sich mittlerweile westlich anmutende Cafés und Restaurants finden lassen. Vor rund drei Monaten hat sich der Aktivist mit seinen Mitarbeitern hier einquartiert. Raschidi wuchs nicht in Afghanistan auf, sondern in Dänemark. In Europa landete er mit seiner Familie, nachdem diese vor dem Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren geflüchtet war. Damals wurde Raschidis Elternhaus von den Milizen des Warlords Gulbuddin Hekmatyar mit Raketen beschossen. Raschidi, damals noch ein Kind, verlor sein Bein. Außerdem wurden sein Bruder sowie sein Vater in den Bürgerkriegsjahren getötet.

1978 führten die afghanischen Kommunisten einen blutigen Putsch durch und errichteten ein Schreckensregime. Ein Jahr später marschierten die Sowjets ins Land ein. Ihre zehnjährige Besatzung fand mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ein Ende. Afghanistan und seine Mudschahedin-Rebellen, die die Rote Armee mithilfe des Westens und islamistischer Verbündeter wie Pakistan und Saudi-Arabien bekämpften, hatten - so schlussfolgerten manche Beobachter - den Kalten Krieg gewonnen. Der Krieg am Hindukusch fand allerdings kein Ende. Nachdem die Mudschahedin Kabul 1992 eroberten, bekriegten die verschiedenen Fraktionen einander. Hier wurde auch erstmals eine zunehmende Ethnisierung des Konflikts deutlich: Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Hazara und andere Volksgruppen wurden nun nach linguistischen oder phänotypischen Merkmalen gejagt, gefoltert und ermordet. Dies betraf nicht nur die Milizionäre der jeweils anderen Ethnie, sondern vor allem Zivilisten. So wurden etwa Paschtunen, die den persischen Laut »qaf« nicht aussprechen konnten, abgeführt und exekutiert, während Hazara, die aufgrund ihrer Gesichtszüge sofort erkannt wurden, dasselbe Schicksal ereilte - oder ein noch schlimmeres.

Am 11. und 12. Februar 1993 ereignete sich das Massaker im Kabuler Stadtteil Afschar, der hauptsächlich von Hazara bewohnt wurde. Die Fraktionen zweier bekannter Mudschahedin-Führer, Ahmad Schah Massud und Abdul Rab Rasul Sayyaf, verbündeten sich, um Hezb-e Wahdat, eine Hazara-Miliz, anzugreifen. Der vermeintliche Angriff auf bewaffnete Kämpfer artete zu einem Massaker aus, das genozidale Ausmaße annahm. Berichten zufolge wurden innerhalb weniger Stunden Hunderte von Hazara verschleppt und ermordet, Zivilisten von den Milizen gezielt angegriffen und massakriert. Die Leichen der Opfer wurden in Massengräber verscharrt.

Für die Hazara begann mit dem Massaker von Afschar eine Retraumatisierung, die historische Ursprünge hat und von Sklaverei, Vertreibung und Genozid geprägt ist. In der modernen Geschichte Afghanistans haben die Hazara nämlich meist die Rolle der »Unberührbaren« eingenommen. Besonders deutlich wurde dies Ende des 19. Jahrhunderts, als Emir Abdur Rahman Khan, ein sunnitischer Paschtune, der dank der britischen Krone in Kabul an die Macht gekommen war, mit Gewalt und nach europäischem Vorbild einen afghanischen Nationalstaat aus dem Boden stampfen wollte. Abdur Rahman setzte vor allem auf Tyrannei, Unterdrückung und rohe Gewalt, die er mittels britischer Waffenlieferung landesweit ausüben konnte. Im Laufe seiner Herrschaft schlug der Emir Dutzende von Revolten nieder. Seine Gewalt richtete sich anfangs gegen alle Ethnien und Konfessionen, die gegen die Diktatur aufbegehrten, darunter auch gegen zahlreiche Vertreter seines eigenen Volkes, der Paschtunen, die bis heute als Gründer Afghanistans gelten. Doch dann startete Abdur Rahman eine rassistische Kampagne, die sich gegen die Hazara richtete.

Auch damals handelte es sich bei den Hazara mehrheitlich um schiitische Muslime. Der Emir erklärte diese prompt zu Ungläubigen und gab sie zum Abschuss frei. Die Hazara wurden nicht nur von den regierenden Paschtunen ethnisch gesäubert, sondern auch von den anderen sunnitischen Volksgruppen Afghanistans. Innerhalb weniger Jahre wurde ihr Bevölkerungsanteil beträchtlich dezimiert. Viele Hazara wurden auf Sklavenmärkten zum Verkauf angeboten. Zehntausende flüchteten ins damalige Britisch-Indien. Abdur Rahman fand stets neue, grausame Praktiken, um die Minderheit zu unterdrücken, darunter auch Deportationen.

Während die meisten anderen Afghanen diese dunkle Episode der Geschichte ihres Landes als etwas längst Vergangenes betrachten, ist sie für viele Hazara weiterhin stark präsent. Der Grund hierfür sind die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan. Im vergangenen Mai griffen Terroristen, die sich zum »Islamischen Staat« (IS) bekannten, eine Mädchenschule in Dascht-e Barchi an und ermordeten fast 100 Menschen. Das Massaker war ein gezielter Angriff auf die Hazara, und es war nicht der erste. In den letzten Jahren wurden die Hazara in Kabul sowie in anderen Landesteilen mehrfach angegriffen. Während viele Afghanen die Gewalt nicht spezifizieren wollen und davon sprechen, dass »alle Afghanen« Opfer des Krieges seien, sehen das viele Hazara anders.

Sie fühlen sich aufgrund ihrer besonderen Merkmale zusätzlich gefährdet. »Ich denke, es ist teils richtig zu sagen, dass wir alle Teil des Ganzen sind«, sagt Niamatullah Ibrahimi, Forscher und Dozent an der La Trobe University in Australien. Zivilisten würden in ganz Afghanistan leiden, und womöglich hätten die Paschtunen die meisten zivilen Opfer seit 2001 tragen müssen. »Dennoch verstehen viele Bevölkerungsgruppen nicht, dass die Angriffe auf die Hazara einen qualitativen Unterschied aufweisen, obwohl aus quantitativer Sicht weniger Hazara getötet wurden als andere Gruppen«, so Niamatullah Ibrahimi. Die jüngsten Angriffe auf die Hazara betrachtet er als gezielte Anschläge »aufgrund ihrer ethnischen und konfessionellen Identität«, die vor allem ein Ziel haben: maximale Auslöschung.

Der IS ist allerdings bei weitem nicht die einzige Organisation, von der sich die Hazara bedroht fühlen. Die ehemalige afghanische Regierung von Präsident Aschraf Ghani, die unter dem Ansturm der Taliban zusammengebrochen ist, hatte ebenso den Ruf, ethnonationalistisch zu agieren. Konkret bedeutet dies, dass wichtige Posten von Paschtunen besetzt wurden, während andere Ethnien - allen voran die Hazara - zu kurz kamen. Ghanis zwei Vizepräsidenten stellten jeweils ein Tadschike, Amrullah Saleh, und ein Hazara, Sarwar Danisch. Kritiker behaupten, dass es sich hierbei nur um einen symbolischen Akt gehandelt hätte. Der paschtunische Nationalismus in den politischen Kreisen würde überwiegen. Hinzu kommt, dass auch viele Nicht-Paschtunen mit ihrem Rassismus gegenüber den Hazara in der Vergangenheit auffielen.

Eine besonders große Bedrohung stellen die Taliban dar, die durch den Abzug der internationalen Truppen freie Bahn hatten und kampflos die Hauptstadt Kabul einnehmen konnten. Auch die hauptsächlich von Hazara bewohnte Provinz Bamiyan wird von allen Seiten von den Taliban belagert. Hier zerstörten die Extremisten vor über 20 Jahren die bekannten Buddha-Statuen, die zum Weltkulturerbe der Unesco zählten und sich jahrhundertelang in der Obhut der Hazara befanden. In der Vergangenheit verübten auch die Taliban mehrere Massaker an den Hazara.

Mittlerweile existieren verschiedene Hazara-Milizen innerhalb Afghanistans und anderswo. Ein prominentes Beispiel hierfür ist etwa die Fatemiyun-Brigade, die vom Iran gegründet wurde und seit Jahren das Assad-Regime in Syrien unterstützt. Bei vielen Milizionären handelt es sich um Geflüchtete, die im iranischen Exil rekrutiert wurden. Meist wurden ihnen im Gegenzug Aufenthaltsdokumente sowie finanzielle Hilfen versprochen. Für viele Beobachter ist klar: Der Syrien-Konflikt hat durch das Aufkommen des IS sowie der Fatemiyun-Brigade auch zu einer zusätzlichen Sektiererei des Afghanistan-Krieges beigetragen.

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