Moskau wartet ab

Russland reagiert betont gelassen auf den Sieg der Taliban - und verstärkt gleichzeitig die Terrorabwehr in Zentralasien

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit dem Frühjahr beobachtet Moskau mit Sorge den Vorstoß der Taliban an die Grenzen der zentralasiatischen Republiken. Experten bezweifelten schon seit Längerem die Überlebensfähigkeit der von den USA unterstützten Regierung in Kabul, russische Diplomaten hatten daraufhin ihre Kontakte zu den Islamisten intensiviert. Und trotzdem: Dass die Taliban den Machtkampf in Afghanistan so schnell entscheiden würden, dachte man auch in Moskau nicht.

So stellte es zumindest Russlands Afghanistanbeauftragter Samir Kabulow in einem Interview von Anfang dieser Woche dar. »Das kam überraschend, weil wir davon ausgingen, dass die afghanische Armee, in welchem Zustand auch immer sie ist, noch einige Zeit Widerstand leisten würde«, erklärte Kabulow, der selbst fünf Jahre die russische Botschaft in Afghanistan leitete, im Gespräch mit dem Radiosender Echo Moskwy. »Aber vielleicht waren wir bei der Beurteilung der Qualität der amerikanischen und der Nato-Streitkräfte zu optimistisch. Mit dem ersten Schuss haben sie alles fallen gelassen.«

Trotz des unerwartet schnellen Sieges: Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern werde Russland seine Botschaft in Kabul nicht schließen, kündigte Kabulow an. Man sei seit Jahren mit den Taliban im Kontakt und habe Garantien für die Sicherheit der russischen Diplomaten. Jedoch werde die Zahl der im Land tätigen Diplomaten reduziert. »Wir haben eine relativ große Botschaft in Afghanistan, insgesamt etwa 100 Personen«, so Kabulow, der noch am Sonntag Pläne für eine Evakuierung abgestritten hatte. »Einige unserer Mitarbeiter werden in den Urlaub geschickt oder auf andere Weise evakuiert, um hier nicht zu viel Präsenz zu haben.« Außerdem hätten Kämpfer der radikalislamischen Miliz bereits die Sicherung des Geländes der russischen Vertretung übernommen. Botschafter Dmitri Schirnow traf sich am Dienstag mit einem Sicherheitskoordinator der Taliban, um die weitere Tätigkeit der russischen Diplomaten im Land zu erörtern.

Wie Russlands Beziehungen zu einem von den Taliban geführten Afghanistan künftig aussehen könnten, bleibt trotz der Verständigung unklar. Moskau wartet ab, wie sich die Lage entwickelt. Eine mögliche Anerkennung einer Taliban-Regierung hänge von deren Verhalten ab, erläuterte Kabulow den russischen Ansatz. »Wir werden aufmerksam beobachten, wie verantwortungsvoll sie den Staat in der nächsten Zeit lenken werden!« Jedoch sei er optimistisch, dass die Taliban aus ihren »Fehlern in der Vergangenheit« gelernt hätten und es nicht wieder zur Errichtung einer Terrorherrschaft käme. Denn Afghanistan sei auf internationale Anerkennung und Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Zudem seien die Taliban im Gegensatz zu anderen radikalen Gruppen wie dem Islamischen Staat (IS) das geringere Übel, zeigte sich Samir Kabulow überzeugt. Die Taliban hätte die radikale Gruppierung »im Unterschied zu den Amerikanern und der gesamten Nato« nämlich erbarmungslos bekämpft.

Russlands abwartende und zugleich pragmatische Reaktion auf die Machtergreifung der Taliban entspringt einem politischen Ansatz, den Moskau seit der Ankündigung des Abzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan im April noch einmal intensiviert hat. Diesem zufolge will sich der Kreml möglichst viele Handlungsoptionen im Verhältnis zu dem Land am Hindukusch und dessen Regierenden offenhalten. Daher intensivierte Moskau seine Kontakte zu zumeist tadschikischen und usbekischen Stammesführern im Norden Afghanistans und lud gleichzeitig offizielle Vertreter der Taliban, deren Bewegung in Russland seit 2015 als Terrororganisation verboten ist, zu einer Reihe vom Westen argwöhnisch betrachteter Afghanistankonferenzen in Moskau ein - zuletzt im Juli dieses Jahres. Die afghanische Zentralregierung unter dem nun aus dem Land geflüchteten Präsidenten Aschraf Ghani - der nach Angaben der russischen Botschaft bei seiner Flucht mit vier mit Geld vollgestopften Autos entkam- galt Moskaus Diplomaten dagegen als schwache und vorübergehende Erscheinung von amerikanischen Gnaden, die jederzeit von den Taliban gestürzt werden könne.

Moskaus vorrangiges Interesse im Verhältnis zu Afghanistan gilt den fünf zentralasiatischen Republiken. Die seit nunmehr 30 Jahren von Russland unabhängigen Staaten sind nach wie vor eng mit Moskau verbunden. Mit dem Vorrücken der Taliban an ihre Grenzen befürchtet die russische Regierung, dass radikalisierte islamistische Kämpfer über Zentralasien weiter nach Russland einsickern könnten. Auch eine Flüchtlingswelle und Drogen wie aus Afghanistan eingeschmuggeltes Opium gelten als Bedrohung.

Darüber hinaus betrachtet Moskau die Region zwischen China, Russland und Afghanistan als angestammte geopolitische Einflusszone, in der es für die Sicherheit zuständig ist. Zwar gilt ein Einfallen der Taliban in Zentralasien unter russischen Experten als wenig wahrscheinlich. Das destabilisierende Potenzial der Islamisten für die Region wird mittelfristig jedoch als hoch eingeschätzt. Dies zeigte sich deutlich am vergangenen Sonntag, als die usbekische Luftwaffe in der an Afghanistan angrenzenden Stadt Termez 22 Militärflugzeuge und 24 Hubschrauber mit afghanischen Soldaten an Bord zur Landung zwang, die vor den Taliban geflohen waren. Dabei kam es auch zum Absturz eines Kampfjets. Nach offiziellen Angaben soll dieser mit einem usbekischen Jäger zusammengestoßen sein, andere Quellen sprechen dagegen von einem gezielten Abschuss.

Auch wenn sich Russland demonstrativ gelassen zeigt: Moskau nimmt die Bedrohung durch die Taliban ernst und baut die Sicherheitsvorkehrungen in Zentralasien aus. Im April kündigte Verteidigungsminister Sergej Schoigu den Aufbau einer gemeinsamen Luftverteidigung mit Tadschikistan an und verhandelte in Usbekistan über eine strategische Partnerschaft. Ende Juli simulierten beide Länder in riesigen Militärübungen mit Russland das Zurückschlagen eines Angriffs der Taliban.

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