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Moral, Manier und Mauerbau

Eine Welt gegen die Welt halten: Die Teilung der deutschen Literatur im Spiegel der Werke von Uwe Johnson

  • Franziska Teubert
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein denkwürdiges Jubiläum: Der Zeitraum, der seit dem Mauerbau vergangen ist, hat die Existenz des Staates an Jahren längst eingeholt. Was gilt es noch zu erinnern? Angesichts der neu aufgeflammten Debatte zur Bedingung von Kunst und Politik lohnt ein Blick auf die deutsche Literatur im Moment ihrer Teilung.

Modell steht der Schriftsteller Uwe Johnson (1934-1984) - aber nicht als der gefeierte »Dichter beider Deutschlands«, ein Attribut, zu dem er sich zeitlebens in entschiedener Notwehr befand, sondern als der 27-jährige Jungautor des Romans »Das dritte Buch über Achim«.

Literarische Streifzüge

Man nehme an einem 13. August Bertolt Brechts Gedicht »Die Lösung« zur Hand und gehe in die Mitte der Stadt Berlin - »Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?« sagte »Ulbrecht«, sagte Hermann Kesten, sagte Uwe Johnson. Man bedenke dabei die sechzig Jahre Mauerbau ohne Wächter und das scheußliche Blockflötenbraun und deprimierende Rosenrot. Und derweil möge man sich des jüngst begangenen fünfzigsten Todestages Georg Lukács’ und eines der Bücher über die Bücher über einen Radrennfahrer Achim erinnern und bemerken, dass ihn dies Bündel Jubiläen augenfällig vor eine Verbindung stellt. Die Verbindung zur Expressionismusdebatte der 1930er Jahre, zum Streit um die richtige Schreibweise im Kampf gegen den Nationalsozialismus und für den Aufbau des Sozialismus mit den Protagonisten Lukács und Brecht, mit den kulturpolitischen Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund des Primats eines staatlich befestigten sozialistischen Realismus in der frühen DDR und der anlässlich des Mauerbaus geführten Debatte zwischen Kesten und Johnson. Das sonderbare Quartett und ihre folgenschweren Querelen: Wie an bedeutsamen Kalendertagen scheinen sie alle in Johnsons Roman »Das dritte Buch über Achim« einen Treffpunkt zu haben.

Die Mauer als literarischer Wendepunkt?

Im Herbst 1961 befindet sich Johnson auf Lesereise mit dem in der BRD erschienenen »Achim«-Roman. Unwillig, da die Öffentlichkeit hofft, darin »eine Erklärung zu finden für die sozialistische Aktion vom August, bloß weil nach vagen Berichten das Buch sich befasse mit den Schwierigkeiten eines Hamburgers und eines Sachsen, die denen in die Verständigung gerieten«. In der BRD besteht Johnson mit »Mutmassungen über Jakob« 1959 die literarische Feuertaufe, im selben Jahr, als er unfreiwillig über die Demarkationslinie verzieht.

In der DDR stand er an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, der erst postum publizierte Erstling »Ingrid Babendererde« stieß in Ost wie West auf politische Ablehnung. Im aufgeheizten Klima der Parteilichkeit des Sommers 1961 schweigt ein solcher Autor: nicht ohne Folgen. Im November kommt es während einer Podiumsdiskussion zum Zusammenstoß mit dem Kritiker Hermann Kesten, Auslöser für einen nationalen Literaturskandal ohnegleichen im Rosenkrieg der beiden deutschen Staaten. Kesten, zu Weimarer Zeit erfolgreicher Romancier und später Exilpapst neben Thomas Mann und Stefan Zweig, wird der BRD unbequemer Mahner. Er verurteilt den Mauerbau und empfiehlt ihn als literarischen Wendepunkt. Doch das Plädoyer für einen neuen literarischen Humanismus offenbart sich auf den zweiten Blick als verschafpelzter Affront gegen die ästhetizistische Selbstbespiegelung der Gruppe 47 und in Moskau gestanzten »Kulissenrealismus«. Brecht wurde von Kesten ein »servitore« der Ulbricht-Diktatur genannt.

Johnson zeigt die Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit auf, fordert dazu auf, Politik und Moral achtsam zu trennen und eine Geschichte nicht nur auf eine Weise zu erzählen. Im Fall Brecht betont er die Verfolgung durch den Nationalsozialismus und die Verweigerung des Aufenthalts in den Westzonen. Für Kesten wird ein solcher Brecht zum Revolutionär, der nach 1945 auf den Höfgen kommt: Johnson, gesinnungsloser Formalist und Parteigänger der SED, halte die Mauer für sittlich und gut und wolle nur beschreiben. Für Kesten zählt er zu einer jungen Generation, der die Seenplatte näher ist als der antifaschistische Kampf. Ihm selbst befinden sich Literatur und Politik in unnachgiebiger Bedingung, die Trennung von Widerstand und Dienerschaft jedweder Diktatur ist sakrosanktes Leitmotiv. Wie Johnson übt Kesten Kritik an Ost und West: hier Adenauer und Globke, da ein Sozialismus, der die noch frische Erinnerung an den Molotow-Ribbentrop-Pakt auf dem Kerbholz trägt.

So ergibt sich die groteske Ahnenreihe um Hitler, Stalin, Benn, Brecht, Jünger, Seghers, Becher, Lukács und Johnson: frei nach dem allzu traurigen Motto, wer nach 1945 noch Kommunist sei, dem gingen Herz und Verstand gleichermaßen ab. Johnson wehrt sich: Hält man redlich fest am Vorhandenen, bleibt Parteinahme unzulässig, der Autor beteiligter Beobachter.

Die Reflexion der gewaltsamen Zuschreibung von Identität und des Lebens zwischen zwei politischen Systemen, von denen keines eine vernünftige Alternative scheint und in denen nicht gleiche Begriffe für dieselben Wahrheiten gelten, ist bereits im »Ingrid«-Roman angelegt, der Erzählung von der Abiturklasse, die sich zum Kampf zwischen Sozialistischer Einheitspartei und evangelischer Kirche verhalten muss.

Ein für das Jahr 1961 historisch paradigmatisches Moment tritt an der Konfrontation zwischen Kesten und Johnson zutage. Vor ihren jeweiligen Lebenshintergründen mussten sie sich missverstehen wollen. Eine solche verunglückte Verständigung wird damit zum Symptom der Grenze, der Entfernung, des Unterschieds, der nicht nur alte und junge Generation voneinander scheidet, sondern eine Zweistaatlichkeit markiert, die sich eingerichtet hat vor ihrer endgültigen Befestigung.

Unmenschliche Erzählformen

Die ironischen Aperçus auf Lukács und Brecht verweisen auf die Expressionismusdebatte. Lukács fordert die Rückkehr zu den großen Realisten, die den menschlichen Zusammenhang der Dinge gestalten, statt gleich dem Naturalismus und den Avantgarden nur tote Oberflächen und subjektive Unmittelbarkeit hervorzubringen. Die Bilanz: »Die beschreibende Methode ist unmenschlich.« Es bräuchte Erzähler mit Macht über Figuren und mit richtiger Weltanschauung, beschreibende Beobachter verlören sich in bedeutungslosen Details.

»Mit einer einzigen Handbewegung wischt er die ›unmenschliche‹ Technik vom Tisch«, moniert Brecht und betont den Gebrauchswert allen literarischen Erbes. Bei Toller habe er mehr gelernt als bei Tolstoj, und Lenin sei zwar kein roter Riesenkubus, spreche aber ebenso wenig wie Bismarck. Nach der Rückkehr aus dem Exil tritt er für kritischen Realismus ein, deutlich spürbar ist jedoch die Ambivalenz seiner kulturpolitischen Position.

Die sowjetischen Befreier sieht Brecht vor allem Theater aus dem Boden stampfen. Johnson hatte freilich in Mecklenburg noch eine andere Rote Armee angetroffen. Brechts Notizen zur Rede auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress klingen vielversprechend, bürgerliche Barbarei und sozialistische Hoffnung seien in beiden Teilen Deutschlands vorhanden. Der Schüler Johnson wird einen Aufsatz zum Kongress verfassen: Dass von den bestrickenden Notizen nichts übrig blieb, ist traurige Gewissheit.

»Das dritte Buch über Achim«

In Uwe Johnsons Roman reist der westdeutsche Journalist Karsch in den Osten, um die Biografie des Radrennfahrers Achim zu schreiben. Das Projekt scheitert, weil Widersprüche, allesamt neuralgische Momente nationaler Geschichte, die Stiftung einer kohärenten Identität verhindern. Achim war in der Hitlerjugend, sein Vater Sozialdemokrat, die Fahrradschaltung wurde in Westberlin gekauft, und dann gibt es da noch die mysteriöse Fotografie vom 17. Juni. Karsch befindet: Private und politische Existenz sind nicht identisch. Er erkennt: Bitterfeld bleibt Illusion.

So wird dieser Roman zu einem Buch über ein Buch über das Erzählen selbst. Uwe Johnson malt ein Bild vom neuen sozialistischen Menschen nicht als Abziehfolie, sondern so, wie er wirklich ist. Damit entlarvt er auch die Aneignung des Gedankenguts nach Brecht und Lukács durch die DDR-Kulturpolitik.

Was kann bleiben von einem 13. August? Der »Achim«-Roman bündelt die Diskurse gleich einem Brennglas: Lukács begegnet beschreibendes Erzählen, Kesten ein Moralbegriff, der auskommt, ohne zu moralisieren, und politische Position ohne Parteilichkeit. Die Postulate des sozialistischen Realismus werden in delegitimierendem Schreiben unterlaufen. Und darin findet sich auch die Haltung zum späten Brecht. Gültig bleibt der Anspruch, eine Geschichte nicht nur auf eine Weise zu erzählen, und die Gewissheit der Redlichkeit - und damit das Johnson’sche Diktum, nach dem eine Welt gegen die Welt zu halten sei.

Uwe Johnson: »Das dritte Buch über Achim«. Suhrkamp Verlag, 304 S., br., 16 €.

Uwe Johnson: »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. Suhrkamp Verlag, 272 S., br., 8 €.

Uwe Johnson: »Mutmassungen über Jakob«. Suhrkamp Verlag, 308 S., br., 10 €.

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