Meine Heimat

  • Lesedauer: 3 Min.

wir alle dachten, du seist eine frau,
blauäugig, weizenhaarig,
lebensspendend,
die allen vergibt
und alle erträgt.

wir dachten, du seiest wie die gottesmutter,
da du ein fast gottgewähltes volk
geboren hast.

armselig kamst du aus dem dunklen dorf,
in deinem leinenbündel trugst du,
wie eine puppe, deine selbstgefertigte,
aus holz geschnitzte,
für die ohren der städter grobe sprache.

du littest, keiner zog dich in betracht,
keiner hörte dir zu. von dir, verachteter,
wandten selbst deine eigenen kinder
ihre reinen gesichtchen ab. doch
du ertrugst alles, die zähne zusammengebissen.

arme du, arme.
doch wir bemerkten nicht,
die augen in über dich geschriebene
bücher vergraben,
wie du die zähne fletschtest,
wie du khakifarbene hosen anzogst,
wie du auf deinen kahlrasierten schädel
einen spezialhelm setztest und dir einen bart anmaltest.

wie du den schlagstock nahmst,
als sei er dir nachgewachsen.
und nun schwenkst du ihn vor unseren augen,
damit keiner zweifelt an deiner veränderten
geschlechtlichen identität.

alle sollen wissen, dass du festhältst
an deinen traditionellen werten:

schlagen, verderben, verachten, gebären,
töten, vergessen, zerbrechen, erbauen
eine riesige mauer aus glasmetall,
dahinter unsere finstere vergangenheit zu verbergen,
uns abzugrenzen
von unserer finsteren zukunft.

du warfst uns alle in eine waagschale,
und setztest dich selbst in die andere
in deiner glänzenden ausstattung
mit wasserwerfern und waffentransportern,
panzern, flugzeugen, flammenwerfern,
kriegsmaschinen und todestraktoren.

so wird stabilität geschaffen.
so wird das gleichgewicht gehalten.
wir armen, wir armen.
doch stinken deine füße nicht in den hohen stiefeln?
juckt nicht dein kahler schädel unter dem helm?
niest du nicht von all dem staub,
wenn du uns durch das panzerfenster anschaust?
fürchtest du nicht, dass der tod trotz allem kommt
und dich entblößt?

Sommer der Liebe

Bei uns war kein Woodstock, kein Sommer der Liebe
Uns überschwemmte gleich das Heroin
Mit 27 erschoss sich Kurt Cobain
Und blieb für immer jung.
Verändert hat sich seither nur wenig …
Der gleiche Wachtraum, ewig zähe Masse
Wie peinlich, seinen Kindern einzugestehen,
Wie sehr ich diese Heimat hasse.

Die Tastaturschakale und Kamerageier
sind die mobilen Götter des Systems …
Du warst einst für sie eine soziale Gefahr,
Der Rausch aber hat noch jeden gebrochen.
Mehr als ein Opfer der stillen Repression
Ist am Ende nur ein sattes Schwein,
Müde Menschen in kalten Abteilen
fahren nach Hause und sind allein.

Andreas Rostek, Thomas Weiler, Nina Weller, Tina Wünschmann (Hg.)
Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution
Eine Flugschrift
edition.fotoTAPETA
272 S., kt., 15,00 €

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal