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Der Behindertensport schrumpft

Wegen Corona verzeichnet der deutsche Verband einen starken Mitgliederschwund. Auch die Paralympicteams werden kleiner

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Die pandemische Lage in Tokio spitzt sich zu. Die Inzidenz steigt, dem Gesundheitssystem droht die Überlastung. Die an diesem Dienstag beginnenden Paralympics finden ohne Zuschauer statt. Doch die Coronakrise reicht weit über das Event hinaus. Der Sport für Menschen mit Behinderung könnte um Jahre zurückgeworfen werden. »Wir erleben einen großen Einschnitt«, sagt Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes DBS. »Wir haben im vergangenen Jahr dramatischer verloren als der olympische Sport.«

Vor Corona hatte der DBS mehr als 650 000 Mitglieder, inzwischen sind es 17 Prozent weniger. Vereine, Rehabilitationsgruppen oder Projekte für Gesundheitsprävention waren über Monate geschlossen. Viele Menschen mit Behinderung fühlten sich isoliert und von staatlichen Stellen mitunter vergessen.

Rund 13 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Beeinträchtigung, drei Prozent von ihnen seit der Geburt. Die Mehrheit erwirbt ihre Behinderung im Laufe des Lebens, meist im höheren Alter. Der DBS hatte es seit seiner Gründung vor 70 Jahren schwer, Menschen mit Behinderung für den Vereinssport zu gewinnen. Der aktuelle Teilhabebericht der Bundesregierung legt sogar nahe, dass 55 Prozent der behinderten Menschen in Deutschland überhaupt nicht sportlich aktiv sind.

Talente werden knapp

Die Zahl könnte durch Corona wachsen, womöglich mit Konsequenzen für den Leistungssport. Krankenhäuser, Schulen oder Physiopraxen, wo Vereine Sporttalente finden können, waren in den vergangenen Monaten kaum zugänglich. »Normalerweise haben wir 12 bis 14 Mitglieder in unserem Landeskader, inzwischen sind es nur noch sechs«, sagt Jörg Frischmann, Parasportchef bei Bayer Leverkusen. »Für die Paralympics 2024 in Paris wird die Zeit knapp, weitere Kandidaten zu finden.« So wie im Fußball hatte sich in der Pandemie auch im Parasport ein Gefälle offenbart. Viele etablierte Spitzenathleten konnten nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 relativ schnell wieder ihr Training aufnehmen. Junge Sportler aus der zweiten und dritten Reihe, die sich Chancen für Tokio ausgerechnet hatten, mussten länger warten und konnten - wenn überhaupt - nur individuell trainieren, ohne Zugang zu Sportstätten und Physiotherapie. Einige Athleten, die wegen ihrer Behinderung zu Risikogruppen zählen, mussten sich strenger isolieren.

»Wir wollen in Tokio mit guten Leistungen für einen Aufschwung sorgen«, sagt Leichtathlet Léon Schäfer von Bayer Leverkusen, in Tokio Medaillenkandidat. Und die Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller ergänzt: »Wir möchten dazu beitragen, dass mehr Menschen Motivation und Begeisterung für Parasport entwickeln.« Für die 133 Athleten aus Deutschland geht es in Tokio um Medaillen, Bestleistungen und Werbewirksamkeit. Doch sie schaffen auch Aufmerksamkeit für eine gesellschaftspolitische Dimension.

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Ob Gebärdensprache oder die so genannte »leichte Sprache« für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung: An vielen Stellen wurde während der Pandemie deutlich, dass wichtige Informationsmöglichkeiten für behinderte Menschen nicht ausreichend sind. Corona habe bestehende Problemlagen noch verschärft, sagt Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für Belange von Menschen mit Behinderungen: »Es ist wichtig, dass die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, um die Infrastruktur wieder hochzufahren, an das Kriterium der Barrierefreiheit geknüpft werden.«

In Bund, Ländern und Kommunen laufen intensive Debatten zur Krisenbewältigung und zur Förderung der Konjunktur. Die Sportministerkonferenz hat auch den Parasport herausgehoben. Der Bedarf an Rampen, Fahrstühlen oder Blindenleitsystemen für Stadien, Sporthallen und Schulen ist enorm, auch die Ausbildungen von Trainern, Lehrern und Physiotherapeuten sind vielfach nicht inklusiv. »Es wäre schön, wenn noch mehr Regelsportvereine Angebote für Menschen mit Behinderung schaffen würden«, sagt Friedhelm Julius Beucher. »Das würde den 6500 Behindertensportvereinen enorm helfen.«

Übergewicht der Industrienationen

Außerhalb von Deutschland und Europa ist die Lage dramatischer. Weltweit leben rund 1,2 Milliarden Menschen mit einer Behinderung, 80 Prozent von ihnen in einkommensschwachen Regionen. Die Paralympics verzerren jedoch die globale Lage. Rund 40 Prozent der Teilnehmenden in Tokio stammen aus den zehn größten Industrienationen. In vielen Ländern in Lateinamerika oder Südostasien kam der Parasport während der Pandemie zum Stillstand. Bis heute gab es keine kontinentalen Paraspiele in Afrika.

Doch das Internationale Paralympische Komitee IPC will die Bewegung mit Hilfe der Tokio-Spiele verbreitern. »Wir denken, dass Menschen mit Behinderung zuletzt oft vergessen wurden«, sagt IPC-Präsident Andrew Parsons. »Wir wollen über Steuergesetze sprechen, auch über Mobilität und Infrastruktur. Der Sport kann zu einer inklusiveren Welt beitragen.«

15 Prozent der Weltbevölkerung leben mit einer Behinderung. Daran knüpft sich auch der Name einer neuen Kampagne des Internationalen Paralympischen Komitees: »WeThe15«. Ein internationales Netzwerk will sich mit Öffentlichkeitskampagnen und Bildungsangeboten gegen Diskriminierung von behinderten Menschen stellen. Angelegt ist die Kampagne auf zehn Jahre. Wahrscheinlich ist, dass diese Zeit nicht ausreichen wird.

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