Eine klimapolitische Initialzündung

Über E-Autos und höhere Benzinpreise wird viel diskutiert. Doch entscheidend für die Klimawende ist der Ausbau der erneuerbaren Energien

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Flutkatastrophe im Juni in Westdeutschland wird später vielleicht als Zäsur erscheinen. Denn sie war nicht nur so verheerend, weil ein Wetterextrem eintrat, das erst durch den Klimawandel so extrem wurde. Gravierender ist, dass die regionale Flut eine hoch entwickelte Vorzeigeregion Deutschlands traf, die über das ganze technische Schutzarsenal verfügte: Talsperren, Dämme, Hochwassermanagement und was moderne westliche Infrastruktur sonst noch aufbietet. Zur jetzigen Gewissheit, dass es auch hierzulande keine Sicherheit mehr vor den Folgen des Klimawandels gibt, gesellt sich eine weitere: Für einen überschaubaren Zeitraum wird sich die Risikolage eher weiter verschlechtern.

Viel zu schnell verbraucht die Menschheit das verbleibende CO2-Budget. Davon nehmen reiche Länder wie eh und je den Löwenanteil für sich in Anspruch. 2021 wird es schon ein »Erfolg« sein, wenn Deutschland genauso viel Klimagase ablässt wie 2019.

Die Wahlprogramme sind randvoll mit Narrativen zum Klimaschutz. Wahlentscheidend ist das Thema aber nicht. Es hat an Strahlkraft verloren. Zu komplex, sozial schwer vermittelbar, keine schnellen Lösungen. Zudem werden oft nur Einzelaspekte diskutiert, die allenfalls kleine Verbesserungen brächten.

Ein hoher CO2-Preis und die fossilen Energien danken ab? Sofern der Strompreis - wie derzeit - hoch genug ist, stört das die Kohleverstromer gar nicht. Die Autoflotte elektrifizieren? Das hilft nicht weiter, wenn am Ende 40 Millionen E-Autos die Straßen verstopfen. Alle werden mehr oder weniger Vegetarier? Wäre gut, aber auch dann entstehen durch Ernährung noch jede Menge neue Klimagase. Reiche weiße Männer okkupieren das CO2-Budget für sich? Das mag sein, aber Klimaneutralität bedeutet im Kern eben auch, dass der CO2-Fußabdruck eines jedes Menschen nahe bei null liegt.

Ob der realen Entwicklung kann einem schon angst und bange werden. »In einem optimistischen Klimaszenario mit einem mittleren Temperaturanstieg in Deutschland von 1,6 bis 2,4 Grad bis Mitte des Jahrhunderts können wir durch die jetzt schon beschlossenen Maßnahmen zur Klimaanpassung die Risiken deutlich reduzieren«, blickt die Klimaexpertin Inke Schauser vom Umweltbundesamt voraus. In einem pessimistischen Szenario von drei Grad Erwärmung dagegen könnten die bisherigen Anstrengungen die Risiken jedoch nicht genügend senken, sagt sie. »Dann brauchen wir weiter reichende Maßnahmen.«

Dabei muss man wissen: Mit den 1,6 bis 2,4 Grad ist nicht die globale Mitteltemperatur gemeint, sondern die Temperatur, um die sich die Landmasse der Bundesrepublik gegenüber der vorindustriellen Zeit erwärmt. Und da sind wir heute schon bei 1,6 oder 1,8 Grad.

Debattiert wird derzeit aber eher abstrakt, wie groß das CO2-Budget ist, über das Deutschland noch anteilig verfügen kann, um das globale 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Da gehen die Zahlen auseinander und wer der Annahme folgt, Deutschland habe mit der industriellen Entwicklung seit 1850 sein historisches Emissionsbudget eigentlich schon verbraucht, müsste politisch sofortige Null-Emissionen verlangen.

Das ist auch nicht sehr realistisch. Wichtiger ist deswegen die Frage: Was kann wirklich getan werden, um das Klimaruder in nächster Zeit noch herumzureißen?

Was zum Umstieg auf Ökostrom nötig ist

Das Erste wäre - und darin sind sich die Experten ziemlich einig - die erneuerbaren Energien massiv voranzubringen, vor allem die Erzeugung von Ökostrom. Das hat einen einleuchtenden Grund: In einer klimaneutralen Welt tritt erneuerbarer Strom an die Stelle der bisherigen fossilen Energieträger Kohle, Öl und Gas. Grüner Strom wird die neue Primärenergie sein, mit der Wirtschaft und Leben größtenteils dekarbonisiert werden.

Weil wenig Zeit ist, kann der Erneuerbaren-Boom nicht unsteten Marktkräften überlassen werden - da muss das sogenannte Ordnungsrecht her: Die erste Maßnahme, die sich hier schon abzeichnet, ist eine bundesweite Solarpflicht für Neubauten und am besten auch gleich bei Sanierung im Bestand. Noch besser wäre ein landesweiter solarer Rollout auf allen Dächern, die sich mit Modulen ausstatten lassen.

Machbarkeitsstudien dazu gibt es zuhauf: Die Ökostrom-Genossenschaft EWS Schönau und die Berater von Energy Brainpool kamen letztes Jahr zum Ergebnis, dass sich bis 2030 rund 140 000 Megawatt solare Kleinanlagen auf Dächern installieren ließen. Zum Vergleich: Das offizielle Ziel der Regierung sind derzeit 100 000 Megawatt.

Kritiker werden hier einwenden: Das klingt ja alles ganz gut, aber dann brauchen wir auch Stromspeicher. Ja, die brauchen wir - vor allem aber brauchen wir zuerst einmal, sagen Ökostromer und Energieexperten, eine schnelle Lösung für den Strom vom Dach, um ihn gleich von denen verbrauchen zu lassen, die darunter wohnen. Oder im Haus nebenan oder um die Ecke im Quartier.

Damit ist weniger das berühmte autarke Eigenheim gemeint und auch nicht nur der Mieterstrom, der sich als Flop erwies. Das Ziel sind vielmehr Wohn- und Gewerbequartiere, die den selbst erzeugten Strom in großem Maßstab unkompliziert verbrauchen, tauschen und auch speichern. Nur die Überschüsse gehen dann ins überregionale Netz. Eine Elektrifizierung von unten, quasi als Bürgerenergie 2.0.

Klima und Wirtschaft allein durch technische Lösungen zu versöhnen, reicht nicht, meint etwa das Konzeptwerk Neue Ökonomie. Das stimmt. Nötig ist eine Art selbstverwaltete Energiewende vor Ort.

Was dabei oft nicht gesehen wird: Ein massenhafter Einsatz von Ökostrom bedeutet auch einen enormen Effizienzschub. Denn heutige Kohlekraftwerke verbrauchen bis zu zehn Prozent ihres Stroms selbst. Benzin- und Dieselautos nutzen nur rund 35 bis 45 Prozent der im Kraftstoff gespeicherten Energie aus. Diese Verluste fallen bei einer durchgehenden Öko-Elektrifizierung weitgehend weg. Fachleute sprechen hier von einer systemischen Effizienz.

Worum es beim CO2-Preis geht

Ausreichend verfügbarer Ökostrom vermag so etwas wie eine klimapolitische Initialzündung zu setzen und könnte eine bisher nicht gekannte Dynamik im Klimaschutz entfesseln. Damit die Hoffnung darauf nicht wie in den letzten Jahren enttäuscht wird, braucht es passende ökonomische Rahmenbedingungen. Hier kommt der CO2-Preis in Spiel, der relativ rasch auf etwa 100 Euro je Tonne erhöht werden müsste, zumindest im nationalen Rahmen. Das würde vor allem dafür sorgen, dass Erdgas als sogenannte Brückentechnologie nicht mehr groß zum Zuge kommen würde. Kohle und Öl wären schon vorher unwirtschaftlich.

Beim CO2-Preis geht es aber um mehr. Die Einnahmen werden zugleich dringend benötigt, um die Kosten des infrastrukturellen Umbaus zu finanzieren - den solaren Rollout zu fördern, den Umbau sozial verträglich zu machen und den Aufbau von Speichermedien wie grünem Wasserstoff anzuschieben.

Allerdings geht bei der Herstellung von grünem Wasserstoff und noch mehr von synthetischen Kraftstoffen ein Großteil der Primärenergie und damit der Effizienzvorteil der Elektrifizierung verloren. Wasserstoff darf deswegen nur dort eingesetzt werden, wo er unverzichtbar ist - nach jetzigem Stand gilt das für die Schifffahrt und das Fliegen. Wer Kurzstreckenflüge verbietet, senkt also den Wasserstoffbedarf und erhöht die Effizienz. Je mehr der Energieverbrauch insgesamt gesenkt wird, desto einfacher ist es, den verbleibenden Bedarf erneuerbar zu decken. Ein grüner Umbau muss nicht immer mit Wachstum verbunden sein.

Weshalb Flächenpolitik wichtig ist

Ein weiteres zentrales Element, um bei der Klimapolitik wirklich voranzukommen, bleibt bisher in den meisten Wahl- und Forderungsprogrammen unterbelichtet: eine neue Flächenpolitik.

Viele denken dabei an die umstrittenen Eignungsflächen für Windkraft mit den noch stärker umstrittenen Abstandsregeln. Derzeit nimmt Windkraft an Land etwa ein Prozent der Fläche ein - Studien besagen, dass zwei Prozent ausreichen würden, um genügend Ökostrom aus Wind zu erzeugen.

Das klingt nach wenig, bedeutet aber, die derzeitigen Flächen für Windanlagen zu verdoppeln. Anders wird es nicht gehen, denn allein mit Solarstrom würde die Energiewende wegen der nötigen Speicher, die wiederum Verluste mit sich bringen, ineffizient und zu aufwendig werden.

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Flächen werden aber nicht nur für Windkraft benötigt, sondern auch für natürliche CO2-Senken wie Wälder und Moore. Mehr Flächen sind zudem nötig für den Erhalt der Artenvielfalt und - siehe Flutkatastrophen - als Pufferzonen für Wetterextreme auf dem Land und in der Stadt. Flächen braucht auch eine umwelt- und klimagerechte Landwirtschaft.

Damit das alles nicht von vornherein unmöglich wird, müsste zuerst ein Baustopp beschlossen werden für neue Autobahnen und Landstraßen, für neue Eigenheim- und Gewerbegebiete im Grünen. Es dürften keine neuen Mülldeponien, Kiesgruben oder Steinbrüche zugelassen werden. Wer künftig Land nutzen will, muss Flächen recyceln. Die öffentliche Hand dürfte keine Flächen mehr privatisieren.

Die Flächenverfügbarkeit schält sich inzwischen als der eigentliche Engpass beim Klimaschutz heraus. Die Debatte, wie diese Frage wirtschaftlich und sozial verträglich bewältigt werden kann, hat noch nicht einmal begonnen - und jetzt im Wahlkampf wird das heiße Eisen schon gar nicht angefasst.

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