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Das Geschäft der Aufklärung

Wiederaufführung als Entlarvung: Beim Kunstfest Weimar wird der NSU-Prozess als Theaterstück gezeigt

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist wohl die italienischste aller ostdeutschen Städte: die Klassikstadt Weimar. Die Plätze sind dicht bestuhlt von den umliegenden Cafés, man flaniert - ja, so etwas tut man hier noch - über die Schillerstraße. Vor dem Denkmal mit den Dichterdioskuren hat die Stadt anlässlich Goethes Geburtstag einen Kranz deponiert, und vor dem neuen Bauhaus-Museum stellen jugendliche Skater ihre Fertigkeiten zur Schau. Beim Weinfest am Frauenplan tummelt sich das Volk, in Funktionskleidung gehüllte Ehepaare mittleren Alters kippen schweigend Wein, laut Ausschankwerbung von niemand Geringerem als Goethes Urenkel persönlich. Und über allem spürt man deutlich einen Hauch, der vom Grill mit den berühmten Thüringer Rostbratwürsten herüberweht.

Gegenüber dem Deutschen Nationaltheater ist, wie jedes Jahr um diese Zeit, ein Pavillon aufgebaut, der für das Kunstfest Weimar wirbt. 1990 als deutsch-deutsches Vorzeigeprojekt in die Welt gerufen, war es stets darum bemüht, die Kunst in die Stadt zu tragen, wie es so schön heißt. Und bis heute nimmt man es in Weimar der damaligen Intendantin Nike Wagner, einem Spross aus dem Clan des berühmten Komponisten, übel, dass sie weniger auf Massenbespaßung denn vor allem auf musikalisch Hochkulturelles setzte. In der Nachfolge legte Christian Holtzhauer dann mehr Wert auf die darstellenden Künste. Seit 2019 leitet Rolf C. Hemke das Kunstfest Weimar, das er mit einem mehrtägigen »Reichstags-Reenactment« eröffnete - eine historische und politische Demokratielehrstunde, deren Reiz eher im Informativen denn im Ästhetischen zu verorten war.

Wendet man sich vom belebten Frauenplan mit Goethes Wohnhaus ab und setzt die Schritte in südlicher Richtung stadtauswärts, wird es leerer. Die Humboldtstraße hinauf befindet sich auf einem Hügel das Nietzsche-Archiv in einem Jugendstilgebäude, das der Architekt Henry van de Velde entwarf. Bevor Nietzsche im Jahr 1900 starb, hatte seine Schwester ihn an dieser Stelle - in der Villa Silberblick - zum Ausstellungsobjekt gemacht. An klaren Tagen blickt man von hier bis auf den Ettersberg hinüber, man sieht das Mahnmal für die von den Nazis im Konzentrationslager Ermordeten. »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung«, hieß es in dem Schwur von Buchenwald.

Neben dem Archiv liegt die Nietzsche-Gedächtnishalle. Eine »geistige Kultstätte« sollte es werden, so die Idee von Elisabeth Förster-Nietzsche, die beständig Kontakt ins deutschnationale und völkische Milieu suchte und auch fand. Erst mit den Nazis an der Macht sollte diese Idee zur Realität werden. Hitler selbst unterstützte das Vorhaben, die Pläne stammten von dem Architekten Paul Schultze-Naumburg, Autor des Pamphlets »Kunst und Rasse«. Mussolini ließ aus Italien eine Dionysos-Statue liefern, sie erreichte Weimar 1944, wurde aber nicht mehr aufgestellt, wie auch die Halle nie ihrem Zweck zugeführt wurde. Nach 1945 wurde sie als Funkhaus fürs Radio genutzt, zwischen 1990 und 2000 vom MDR, seitdem steht sie leer. Doch die Sichtachse von der Nietzsche-Gedächtnishalle nach Buchenwald ist paradigmatisch für das Verhältnis von Geist und Macht in Weimar.

Auch in dieser Hinsicht ist es sehr interessant, die Nietzsche-Gedächtnishalle als Spielort für die Inszenierung »438 Tage NSU-Prozess. Eine theatrale Spurensuche« zu wählen. Für das im Rahmen des triennalen Kunstfests uraufgeführte Projekt - ein 17-tägiges Reenactment, also eine Wiederaufführung, die vor Ort und im Internet per Stream verfolgt werden kann - zeichnen Nuran David Çalış und Tunçay Kulaoğlu verantwortlich. Als Vorlage dienten unter anderem Texte aus dem Buch »Der NSU-Prozess. Das Protokoll«. Die beiden Künstler haben sich nicht das erste Mal mit rechtem Terror auseinandergesetzt: Çalış inszenierte kürzlich in Frankfurt am Main das Stück »NSU 2.0« und bereits vor ein paar Jahren »Die Lücke. Ein Stück Keupstraße«, damals in Köln. Kulaoğlu ist Teil des Theaterprojekts »Kein Schlussstrich!«, in dem es um den NSU geht.

Betritt man die Nietzsche-Gedächtnishalle, mahnen große Aufhänger an die Ermordeten des NSU. Es gibt eine kleine Ausstellung, ein Raum ist gefüllt mit geschredderten Akten, die Maschine läuft noch, an der Tür ein Schild mit der Aufschrift »Bundesamt für Verfassungsschutz, Abteilung Rechtsextremismus«. Im zentralen Saal befindet sich ein Nachbau des Verhandlungsraums vom Oberlandesgericht München, in dem an 438 Tagen der Prozess gegen den NSU stattfand.

Gegen »den« NSU? Wohl kaum, sagt Mehmet Daimagüler, Anwalt der Nebenklage beim NSU-Prozess. Daimagüler ist an diesem Abend Teil der Inszenierung und des anschließenden Podiumsgesprächs. An jedem der 17 Tage des Projekts sind andere Menschen geladen, sogenannte Experten des Alltags. Die Teile arbeiten die Verbrechen auf, wie sie bei dem Prozess verhandelt wurden, am 11. September endet das Projekt mit dem Kapitel »Das Urteil«. Daimagüler, früher Politiker unter anderem im Vorstand der FDP und Buchautor, sagt, der Staat habe der Öffentlichkeit ein Theaterstück vorgespielt. Das bestehe aus drei Akten: Zuerst Pleiten, Pech und Pannen, dann Enttarnung des Trios und zuletzt Prozess, Läuterung und Schlussstrich. Nur stimme an diesem staatlichen Narrativ nichts, »Bullshit« nennt Daimagüler es. Es gelte drei Fragen zu stellen: Wie groß ist - bewusst Präsenz, fügt er hinzu - der NSU wirklich, welche Rolle spielen die Geheimdienste des deutschen Staates und wie wirkt Rassismus in der Gesellschaft?

Beklemmend sei es, wieder in dem Gerichtssaal zu sein, sagt Daimagüler, auch wenn es nur eine Theaterinszenierung ist. Das sei aber auch wichtig, denn man müsse ein eigenes Narrativ entwickeln, die Erinnerung wachhalten. Die schlechte Inszenierung der vermeintlichen Aufklärung durch den Staat dürfe man nicht einfach hinnehmen - Wiederaufführung also als Entlarvung der schlechten Vorlage.

Daimagüler ist ein charismatischer Erzähler, insbesondere von bildhaften Anekdoten. Sein Plädoyer im NSU-Prozess hat er als Buch unter dem Titel »Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran« veröffentlicht, einen Auszug daraus liest er vor. Man müsse sein eigenes Verhalten hinterfragen, fordert er, Feigheit und Opportunismus dürfe man nicht hinnehmen. Er habe damals - noch als Politiker - von den Demonstrationen gewusst, auf denen »Stoppt die Mörder!«, »Kein zehntes Opfer!« und »Wo ist die Polizei?« gerufen wurde, er selbst aber habe damals keine Konsequenzen daraus gezogen. Doch durch den Prozess habe er sich verändert. Den Eindruck habe er allerdings bei vielen anderen Beteiligten nicht gehabt.

Dass der Weimarer Bürgermeister Ralf Kirsten, früherer Leiter der dortigen Polizeidirektion - die wegen verschiedener Übergriffe berüchtigt ist, was aber öffentlich kaum aufgearbeitet wird -, zwar am Reenactment beteiligt war, für die anschließende Podiumsdiskussion aber nach Aussage der Veranstalter keine Zeit gehabt habe, passt da ins schlechte Bild. Das Geschäft der Aufklärung zu betreiben, bleibt mühselig. Wiederaufführung bedeutet auch, sich zu vergegenwärtigen und nie zu vergessen, dass vom Nazismus und seinen Wurzeln noch zu viel vorhanden ist.

Nächste Vorstellungen täglich vom 2. bis 11.9.

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