Zweifel an fairem Verfahren

Prozess gegen vermeintliche Gruppe um Lina E. in Dresden begonnen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Fall Wirecard hat die Bundesanwaltschaft nicht interessiert. Die Pleite der Firma habe nicht nur Tausende Anleger hart getroffen und hohe finanzielle Schäden verursacht, sondern auch das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt geschädigt, sagt der Leipziger Anwalt Erkan Zünbül. Die oberste Anklagebehörde des Landes aber wurde nicht tätig; der Fall beschäftige eine einfache Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf laute lediglich: bandenmäßiger Betrug.

Zünbül vertritt die 26-jährige Leipzigerin Lina E., die gemeinsam mit drei jungen Männern seit diesem Mittwoch in einem Hochsicherheitssaal des Dresdner Oberlandesgerichts (OLG) auf der Anklagebank sitzt und gegen die weit schwereres Geschütz aufgefahren wird. Aus einer »militanten linksextremistischen Ideologie« heraus sollen sie zwischen August 2018 und Februar 2020 bei acht Taten insgesamt 13 Nazis überfallen und teils schwer verletzt haben; Lina E. gilt als führender Kopf und »Kommandogeberin«. Der Bundesanwaltschaft geht es aber nicht nur um die Einzeltaten; sie wirft den Angeklagten darüber hinaus vor, als kriminelle Vereinigung agiert zu haben.

Die Verteidigung hält diesen Vorwurf für grotesk. Nicht nur fehle es an konkreten Belegen für einen organisierten Zusammenschluss. Es gebe »keinen Namen, keinen Ort, keine Schreiben«, sagte einer der Anwälte: »Das ist eine Vereinigung, die keiner kennt.« Auch Bundesanwalt Bodo Vogler räumt ein, es gebe beispielsweise »keine streng hierarchische Struktur oder starre Rollenverteilung«. Dennoch seien die Angeklagten zum Beispiel mit »gemeinschaftlicher Arbeitsverteilung« vorgegangen.

Das Verfahren ist ein »Experiment«

Das reiche für den schweren Vorwurf nicht aus, erwiderte Verteidigerin Undine Weyers. Sie erinnert daran, dass der entsprechende Paragraf 129 des Strafgesetzbuches 2017 im Bundestag neu geregelt wurde. Er soll Straftaten ahnden, die das Staatsgefüge erschüttern und die innere Sicherheit der Bundesrepublik gefährden. Vogler sieht das als gegeben: Die Angeklagten um Lina E. hätten mit ihren brutalen Attacken auf politische Gegner dem friedlichen Meinungsstreit eine Absage erteilt, zur politischen Radikalisierung beigetragen und damit einen »Grundpfeiler des Rechtsstaats« erschüttert. Weyers weist das zurück. Eine Gefahr für den Rechtsstaat gehe von Neonazi-Netzwerken wie Hannibal aus oder von Nazigruppierungen, die Todeslisten politischer Gegner führen. Hier handle es sich aber um »Einzelauseinandersetzungen, die keine Gefahr für den gesamten Staat darstellen«. Das Verfahren in Dresden sei vielmehr ein »Experiment« der Bundesanwaltschaft, wie weit sich der Paragraf 129 in politischen Verfahren dehnen lasse.

Zu den Taten, über die in dem Prozess verhandelt wird, gehört etwa ein Überfall auf die Kneipe »Bull’s Eye« in Eisenach im Oktober 2019, deren Betreiber ein bekannter Neonazi ist und der wenige Wochen später noch einmal überfallen wurde. In einem anderen Fall wurden Teilnehmer eines Naziaufmarsches zum 55. Jahrestag der Bombardierung von Dresden auf der Rückreise am Bahnhof von Wurzen zusammengeschlagen. Detailliert wird in der Anklage auch ein gescheiterter Überfall auf den Leipziger Rechtsreferendar Brian E. geschildert, der im Januar 2016 am Überfall von mehr als 200 Nazis auf den Szenestadtteil Connewitz beteiligt, später aber dafür nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Der Angriff auf diesen sei kurzfristig abgeblasen worden, weil es »polizeiliche Maßnahmen« zum Schutz von E. gegeben habe.

In dem Prozess, in dem bis März zweimal wöchentlich verhandelt wird, sollen zunächst Zeugen zu diesen einzelnen Angriffen gehört werden. Wie unvoreingenommen die Beweisaufnahme erfolgt, ist nach Ansicht der Verteidiger offen. Lina E.s Anwalt Ulrich von Klinggräff verwies auf eine enorme Vorverurteilung seiner Mandantin etwa in Presseberichten, die sie teils selbst mit der NSU-Täterin Beate Zschäpe auf eine Stufe stellten. »Eine Verurteilung hat bereits stattgefunden«, fürchtet er. Dazu trug bei, dass immer wieder Details aus Ermittlungsakten durchgestochen wurden, zuletzt kurz vor Prozessbeginn an das rechte Magazin »Compact«. Auch darum, sagt von Klinggräff, »muss es in diesem Verfahren gehen«.

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